Gustl Mollath Foto: U. Prem |
Am 18. August 2013, zwölf Tage nach der Entlassung Gustl
Mollaths aus der Bayreuther Forensik, verwahrte sich Forensik-Chef und
Mollath-Gutachter Klaus Leipziger in einem Interview gegen den Vorwurf der
Falschbegutachtung. Wie er dem Magazin FOCUS erklärte, sei psychiatrisch »alles
vollkommen korrekt gelaufen«, denn aus der »stationären
Begutachtung und den Erkenntnissen aus der Hauptverhandlung mit der Einvernahme
von Zeugen« hätten sich ausreichend Hinweise für sein Gutachten ergeben.
Spontan
ist es schwer zu beurteilen, welche Option die Schlimmere wäre: Eine gezielte
Manipulation zulasten eines Missliebigen, oder aber der Gedanke, dass der bisherige
Umgang mit Gustl Mollath nach heutigen Standards als »vollkommen korrekt« zu gelten hätte. Wäre es nicht furchtbar, wenn dieser
Fall tatsächlich die psychiatrische Normalität widerspiegeln würde? Und wäre es
nicht noch unfassbarer, wenn der maßgebliche Gutachter, der zugleich auch
jahrelang für die Durchführung des »Maßregelvollzugs« an Mollath verantwortlich
zeichnete (eine Doppelfunktion, die schon für sich gesehen ein Unding ist), in
seiner Vorgehensweise keinerlei Probleme sähe?
Verfassungswidrige
Totalbeobachtung
Tatsächlich
klingen die Einlassungen Leipzigers ausgesprochen lapidar: »Dass das ganze System jetzt wegen,
möglicherweise auch massivsten Fehlern in einem Einzelfall, in Frage gestellt
werden muss, das sehe ich nicht so«, erklärt er dem FOCUS, wohl um seinen
Willen zu unterstreichen, möglichst schnell zu dem zurückzukehren, was ein
forensischer Psychiater unter »Normalität« versteht.
Grund
für geflissentliches Business as usual gibt es für Leipziger reichlich, denn
der von Mollaths Verteidiger Gerhard Strate eingereichte Antrag zur Klageerzwingung, gerichtet unter anderem gegen Klaus Leipziger
wegen Freiheitsberaubung zulasten Gustl Mollaths, hat es in sich: Auf 182
Seiten führt der Hamburger Rechtsanwalt aus,
weshalb die 2004 erfolgte fünfwöchige Unterbringung Mollaths zum Zwecke der
»Begutachtung« verfassungsgerichtlichen Vorgaben widersprach: Nach Strates
Erkenntnissen entsprach die Vorgehensweise einer Totalbeobachtung, die den »unantastbaren Bereich privater
Lebensgestaltung« berührte, wie das Verfassungsgericht bereits 2001 in
einem anderen Fall geurteilt hatte.
Dass
das Personal des BKHs Bayreuth tatsächlich zu willkürlichen, für Mollath nicht
vorhersehbaren Zeitpunkten zusammenhanglose Notizen über ihn erstellte, er sich
einer Beobachtung zu jedem denkbaren Zeitpunkt und durch wen auch immer also
nicht entziehen konnte, ergibt sich aus Beispielen wie diesem, das Strate auf
Seite 39 seines Antrags zitiert:
»Am 26.02.2005 sei der Angeklagte beobachtet worden, wie er in seinem Zimmer Weißbrot und Käse sowie Tee zu sich genommen hätte.«
(Beweismittel: „Forensisch-Psychiatrisches Gutachten“ des Beschuldigten zu 2 [Leipziger] vom 25.7.2005, S. 18)
Ob
Klaus Leipziger über wissenschaftlich fundierte Kenntnisse verfügt, die einen
zwingenden Zusammenhang zwischen dem Konsum von Weißbrot, Käse und Tee sowie
der angeblichen »Gefährlichkeit« eines Menschen herzustellen erlauben, ist
leider unbekannt. Wie gefährlich auch immer der Konsum derartiger Dinge einen
Menschen erscheinen lassen mag: Mollath ist nun endlich frei! Die
Rückverwandlung eines Objekts der psychiatrischen Verwahrung in einen
vollwertigen Menschen ist wider allen Bemühungen der Zunft gelungen. Klaus
Leipziger, der den Maßregelvollzug und die Psychiatrie laut FOCUS »in ein ganz schiefes und problematisches
Licht gerückt« sieht, verkneift sich einen Kommentar zu dieser Entscheidung
des Oberlandesgerichts Nürnberg und beruft sich im Übrigen auf seine ärztliche
Schweigepflicht.
Der Rauswurf des
Störenfrieds
Das Symbol des Entlassungstages: Die von Mollath in der Forensik gezogene »Dattel-Orange« Foto: U. Prem |
Klar
ist, dass das BKH Bayreuth höchst erfreut gewesen sein muss, Mollath endlich
loszuwerden, ist eine ruhige, geordnete Durchführung der dortigen »Arbeit«
doch nur unter völliger Abwesenheit öffentlicher Kontrolle möglich. Und so trug
die Entlassung des Störenfrieds am 6. August deutliche Züge eines Rauswurfs:
Nur wenige Stunden hatte man dem seit siebeneinhalb Jahren Gefangenen
eingeräumt, um seine Sachen zu packen und den Auszug zu organisieren (»das ist
schließlich kein Hotel!«). 29 Kartons, mehrheitlich gefüllt mit eigenen,
handgeschriebenen Schriftstücken, galt es zu packen und abzutransportieren.
Doch wohin? Auch eine Bleibe für die ersten Tage musste gefunden werden, nebst
Lagerraum für Mollaths 29 Zeugen seines unbeugsamen Überlebenswillens. Zum
Symbol des Tages wurden jedoch nicht die Kisten, sondern eine von Mollath in
der Gefangenschaft aus Dattel- und Orangenkernen selbst gezogene Topfpflanze,
auf jetzt.sueddeutsche.de scherzhaft »Citrus Mollathiensis« getauft.
Während
Unterstützer und Bürger sich um das Notwendige kümmerten, war Justizministerin
Merk um Schadensbegrenzung bemüht. Für sich selbst, wohlgemerkt, denn dass
Gustl Mollath zur selben Stunde faktisch mittel- und obdachlos auf die Straße
gekickt wurde, schien weder sie noch »Sozialministerin« Haderthauer (wo ist die
eigentlich, wenn’s brennt?) weiter zu bekümmern, war Merk doch mit der
Veranlassung einer Pressemeldung befasst: »Mein
Ziel, mit Anordnung des Wiederaufnahmeantrages den Fall neu aufzurollen, ist
erreicht!«, hieß es darin. Wer die Vorgänge um Gustl Mollath erst seit Kurzem verfolgt, mag
sich noch die Augen über so viel ministerielle Unverfrorenheit reiben:
Längerfristige Unterstützer wundern sich über derartige Verdrehungen schon
lange nicht mehr, folgen sie doch genau dem unerträglich relativierenden, zum
Erbrechen rabulistischen, von Sophismen aller Art durchzogenen Schema, das den
Fall des Gustl Mollath von Anfang an ausmachte.
Die Vollstrecker des Irrationalen
Was bleibt, ist ein Klaus Leipziger vor den Trümmern seines pharmazeutisch-magischen Weltbilds. Ob er in stillen Stunden die Wegbegleiter seiner jungen Jahre verflucht, die ihm eingeredet haben, Psychiatrie sei eine Wissenschaft und ihre divinatorischen Möglichkeiten seien denen eines Horoskops überlegen? Verspricht das Ableiten von Prognosen aus Weißbrot, Käse und Tee tatsächlich exaktere Ergebnisse, als die Vorhersagen früherer Wahrsager aus dem Kaffeesatz? Die jedes Grundrecht aushebelnde Omnipotenz solcher Vollstrecker des Irrationalen jedenfalls geht ihrem Ende entgegen, was auch Klaus Leipziger nicht entgangen sein dürfte.
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Psychiaterresozialisierungsamt schreibt:
AntwortenLöschenIch habe mir das Kröber Interview (Telepolis) durchgelesen 22. August 2013 um 08:52
http://opablog.net/2013/08/18/zehn-kleine-nachhilfen/#comment-6509
Wäre es nicht furchtbar, wenn dieser Fall tatsächlich die psychiatrische Normalität widerspiegeln würde?
AntwortenLöschenSo ist es aber. Das ist der Modus Operandi der Psychiatrie. Mollath ist kein "bedauernswerter Einzelfall".
Genau das ist auch mein Eindruck, nach Monaten der Beschäftigung mit der Materie. Es wird nun Zeit für eine breit angelegte Diskussion darüber, ob wir uns derartige Zustände mitten im Rechtsstaat tatsächlich weiter erlauben können und wollen.
LöschenRA Strate hat alle Gutachten zum Fall Gustl Mollath veröffentlicht.
AntwortenLöschenhttp://www.strate.net/de/dokumentation/index.html
http://muschelschloss.blogspot.de/2013/08/mollath-dokumente-ra-strate-hat-alle.html
Hier werden die Gutachten auch gerade nochmal diskutiert.
AntwortenLöschenhttp://gabrielewolff.wordpress.com/2013/08/18/der-fall-mollath-etappensieg-und-raumgewinn/comment-page-1/#comment-22665
und hier eine Stellungnahme von Petra Kutschke
http://opablog.net/2013/08/16/am-grosen-herz-der-medien/#comment-6424
"Die Justiz schreit: Hilfe!"
AntwortenLöschenUeber einen grundanstaendigen bayrischen Richter, nun Vorsitzender einer Strafkammer:
Gerd Hellmood schrieb als Leserbrief in der SZ zu Mollath:
... "Ein grundanständiger bayerischer Richter, inzwischen Vorsitzender einer Strafkammer warnte mich in einer Bagatell-Strafsache sinngemäss mit den Worten: "Sie können hier offen reden. Bevor ich das Richteramt übernommen habe, war ich Angehöriger der Staatsanwaltschaft. Der letzte Fall, an dem ich mitgewirkt hatte, war die Hypo-Bank Imobilienaffaire. " Zum Saal gewandt sagte er: " Die Hypobank hatte mutmasslich seinerzeit hunderte, wenn nicht tausende Anleger mit wertlosen Immobilien in den neuen Bundesländern über den Tisch gezogen. Viele erlitten einen Totalverlust und nicht wenige wählten gar den Freitod. Ich weiss, dass Banken über Leichen gehen. Doch ob Sie es glauben oder nicht - wieder zu mir gewandt - wir (die Staatsanwaltschaft), konnten nichts machen."
Inzwischen in Kenntnis der Causa Mollath, ahne ich, warum nichts zu machen war. Schliesslich, bevor er vertagte, warnte er mich noch davor, dass die Staatsanwaltschaft im Falle weiterer Beharrlichkeit meinerseits, ein psychiatrisches Gutachten beantragen würde.
Heute ist mir klar, was er auf keinen Fall sagen durfte und doch zum Ausdruck bringen wollte. Die Justiz schreit: Hilfe!
http://www.sueddeutsche.de/bayern/gutachten-ueber-massregelvollzug-in-bayern-aus-dem-fall-mollath-lernen-1.1752548?commentspage=all:2:#comments
“....im Falle weiterer Beharrlichkeit meinerseits, ein psychiatrisches Gutachten beantragen würde.“
AntwortenLöschenAus eigener leidvoller Erfahrung muss ich bestätigen, dass Beharrlichkeit tatsächlich nicht gern gesehen wird und "Verfahrensabläufe" wie diejenigen, die Gustl Mollath zugemutet wurden auch anderen zugemutet werden (erschreckende Normalität); keineswegs ein Einzelfall, im Sinne von Ausnahme. Sein Fall ist exemplarisch für viele vergleichbare.
Zu meinem eigenen "Fall": Aufgrund von Äußerungen in einem gerichtlichen Verfahren mischte sich (ominöserweise auf dem Aktenweg; folglich über Monate hinweg ohne meine Kenntnis)der damalige Direktor des Amtsgerichts ein, mit verleumderischer Verfügung gegenüber dem "Betreuungsgericht", dass die Äußerungen "Anlass böten zu prüfen, ob eine Betreuung eingerichtet werden müsse". Demzufolge wurde seit dem 21.Nov 2012 der entsprechende Apparat gegen mich losgelassen... ...
Erst durch Akteneinsicht über den Rechtsanwalt erfuhr ich, wer dafür verantwortlich ist - allerdings wird bis dato keine konkrete Begründung gegeben, um welche Äußerungen meinerseits es sich handeln soll, inwiefern diese "Anlass böten, zu prüfen..." --- Um das Ganze abzukürzen: Akteneinsicht war seit dem 05.07.2013 beantragt, erst heute konnte ich in der Anwaltskanzlei (Anwalt z.Zt im Urlaub) wenigstens kurzen Einblick in die Akte nehmen - sah den zwischenzeitlichen Versuch der Richterin, über Anwendung von § 284 Unterbringung zur Begutachtung --- Vergleichbares mit meiner Person zu versuchen wie es mit Gustl Mollath geschehen ist: Unterbringung zur Beobachtung zur Vorbereitung eines Gutachtens - Man fühlt sich wie im falschen Film, fragt sich, sind die eigentlich völlig bekloppt? Ich bin's jedenfalls nicht.
Ach ja – und das ist dann die besagte angebliche “fehlende Krankheitseinsicht“.
23. August 2013 20:45
Aus der Anonymitaet treten, um Ihren Fall bekannt zu machen?
LöschenIch wuerde mir ja wuenschen, dass es eine Anlaufstelle gibt, wo aehnliche Faelle aus Psychiatrie, Justiz und Banken gesammelt werden und anonym Fallschilderungen eingereicht werden koennen. Vielleicht Frau Wolff?
Danke für das Feedback. - Eine Anlaufstelle würde ich mir auch sehr wünschen. Vor allem einen kompetenten Rechtsanwalt (außerbayerisch!) - und auch die finanziellen Mittel dazu (die inzwischen fehlen).
Löschen"Aus der Anonymität treten" - so wie Gustl Mollath es gewagt hat - das stelle ich mir als Lehrkraft, die auch wieder in ihrem Beruf Fuß fassen möchte - sehr schwierig vor. Durch diese behördlicherweits anonyme ("per Verfügung", Existenz vernichtende Rufschädigung (Rufmord) ist mein Leben schon ruinös beeinträchtigt (Arbeitsplatzverlust, inzwischen auf ALGII Bezug)
Der Kommentator, der soeben ein angebliches Zitat von Beate Merk gepostet hat, möge bitte eine genauere Quellenangabe nachreichen, damit ich den Beitrag veröffentlichen kann. Die Quelle "eine Tageszeitung" ist doch etwas ungenau, zumal sich das entsprechende Zitat auch mit Volltextsuche nicht auf einem Nachrichtenportal ergoogeln oder anderweitig verifizieren lässt. Danke!
AntwortenLöschenDas hier sagt alles: https://www.youtube.com/watch?v=MHSbvbCzmKs
AntwortenLöschenDanke für den Hinweis.
LöschenIm "Sumpf" der vielen Nachrichten war mir der Fall schon nicht mehr im Bewustsein
Nun steht die Frage im Raum, auf welchem Postamt hat Herr Leibziger früher gearbeitet?
Der Artikel ist hervorragend formuliert!:D
AntwortenLöschenJeder Satz ein Treffer! Großes Kompliment!!!
und der auch noch: https://www.youtube.com/watch?v=nw5DbvjFvWU
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