Sonntag, 16. Juni 2019

491 »Das Geheimnis der kopflosen Gestalten«

Teil 491 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


»Der Tod ist kein Abschnitt des Daseins, sondern nur ein Zwischenereignis, ein Übergang aus einer Form des endlichen Wesens in eine andere.«, konstatierte Wilhelm von Humboldt (*1767,†1835). In unserer modernen Apparatemedizin wird versucht, den Tod als ein klar definiertes Ende des Lebens zu umschreiben. Der Todesmoment muss juristisch klar definiert werden, um festzulegen, von welchem Zeitpunkt an Organentnahmen und Übertragungen möglich sind. Jahrhunderte der Erforschung des Übersinnlichen freilich lassen erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob es sich so eindeutig festlegen lässt, was Noch-Leben und Schon-Tod eigentlich sind. Das wird durch das Geheimnis der kopflosen Gestalten verdeutlicht.

Foto 1: Der Heilige Denis...
Schallend lacht der römische Henkersknecht. »Na, da wird es wohl doch nichts mehr werden mit deiner Stadtgründung!« Mit diesen Worten schlägt er dem Bischof von Paris, dem Heiligen Denis, den Kopf ab. Die Hinrichtung ist vollzogen. Die ersten Schaulustigen treten den Heimweg an. Doch da durchzuckt wieder (?) Leben den toten (?) Körper. Entsetzt fliehen die Menschen, allen voran der lästernde Henkersknecht. Wie eine Marionette, von einem unsichtbaren Spieler an unsichtbaren Fäden gezogen, erhebt sich der tote St. Denis, ergreift sein Haupt mit der Bischofsmütze. Er beginnt zu laufen.

St. Denis wurde zusammen mit dem Priester Rustikus und dem Diakon Eleutherius auf dem Momatre enthauptet. Ob das anno 272 oder erst 285 geschah, das konnte nicht ganz geklärt werden. König Dagobert ließ Reliquien in die Kirche der Benediktinerabtei Saint-Denis übertragen, die dadurch zum größten Heiligtum Galliens und später zu einer Art Nationalmausoleum wurde. Hier fanden fast alle Könige Frankreichs ihre letzte Ruhestätte. Die Kirchenfahne von St. Denis erlangte unter dem Namen »Oriflamme« als Siegesfahne der französischen Könige Berühmtheit. Dargestellt wird St. Denis als Bischof mit abgeschlagenen Kopf in der Hand. So zeigt ihn auch eine Statuette in der oberfränkischen Basilika Vierzehnheiligen bei Bad Staffelstein (Bauzeit:1743-1772), wo er als einer der vierzehn »Nothelfer« verehrt wird. So begegnet St. Denis uns im ehemaligen Kloster zu Corvey.

St. Denis, alias Heiliger Dionysius, wird zu den »Vierzehn Nothelfern« gezählt, die auch in meiner fränkischen Heimat verehrt werden. In der Basilika »Vierzehnheiligen« gruselte es mich als Kind beim Anblick einer Statue des Heiligen ohne Kopf, der sein abgeschlagenes Haupt trägt. Im ehemaligen Kloster Corvey fotografierte ich ihn, den Heiligen Denis. Er macht, trotz seiner misslichen Lage, eigentlich einen fidelen Eindruck.

Foto 2: ... trägt sein Haupt.
Prof. Hans Schindler Bellamy (*1901; †1982), Wien, im Gespräch mit dem Verfasser: »Das rätselhafte Geschehen um den Heiligen Denis von Frankreich stellt kein einzigartiges Mysterium dar. Doch von den Erzählungen von kopflose Gesellen ist die St. Denis-Geschichte die älteste bekannte. Wer sich mit dem Rätsel der kopflosen lebenden Toten oder der kopflosen toten Lebenden auseinandersetzen will, der muss mit St. Denis im dritten nachchristlichen Jahrhundert anfangen.« Nicht nur Heiligen wird nachgesagt, dass sie kopflos wandeln konnten.

Der Überlieferung nach wurde der legendäre Pirat Klaus Störtebeker am 20. Oktober anno 1401 auf dem »Grasbrook« bei Hamburg zum Richtblock geführt. Angeblich hat er kurz vor seinem Tod ein verlockendes Angebot gemacht. So man ihn den verschonen und ungehindert abziehen ließe, würde er sich das sehr viel kosten lassen. Er versprach für den Fall seiner Freilassung eine Goldkette, die rings um die Stadt reichen würde. Das Angebot wurde abgelehnt. Der Legende gelang dem berühmten Piraten eine wundersame Aktion. Der Henker versprach Störtebeker, allen seinen Kameraden das Leben zu schenken, an denen er nach seiner Enthauptung mit dem eigenen abgeschlagenen Kopf vorbeigehen würde. So wankte der kopflose Pirat an immerhin elf seiner Spießgesellen vorbei. Vermutlich hätte er seinen Weg noch weiter fortgesetzt, hätte man ihm nicht einen Holzscheit zwischen die Beine geworfen. Störtebeker strauchelte, wie die Legende sagt, und ging zu Boden. Seine vermeintlich geretteten Kameraden wurden trotzdem hingerichtet.

Foto 3: Klaus Störtebeker (?)
So sagt’s die Legende. An der aber ist nichts Wahres dran. Zu diesem Ergebnis kommt der Mittelalterexperte Gregor Rohmann. Nach Rohmanns profunden Recherchen war der historische Störtebeker gar kein Pirat. Der Danziger Kapitän Johann Stortebeker diente im frühen 15. Jahrhunderten verschiedenen Kriegsherrn. Um das Jahr 1400 wurden in Hamburg eine ganze Reihe von Piraten hingerichtet. Ein »Vitalienbruder Klaus Störtebeker« allerdings war nicht dabei. Der Kaufmann Stortebeker kaperte anno 1405 ein englisches Handelsschiff. Dagegen hatten die Hamburger nichts einzuwenden.

Bis ins dritte Jahrhundert zurückdatiert wird der Bericht von einer kopflosen Frau, die einem Mann namens Gabriel Fisher in der englischen Grafschaft Lancashire begegnet sein soll. Alkoholisiert war der Mann auf dem Nachhauseweg. Eben hat er, in Gesellschaft seines Hundes Trotty, das Wirtshaus »White Bull« verlassen. Plötzlich bleibt der treue Vierbeiner wie angewurzelt stehen. Eine Frau kommt des Wegs. Trotty knurrt sie an. Der Mann geht wankend weiter. Nach einigen Schritten kann er die Frau deutlicher sehen. Sie trägt ein langes, fließendes Gewand.

Foto 4: Denkmal für Störtebeker
Gabriel Fisher wundert sich, was eine doch ordentlich wirkende Frauensperson zu dieser Stunde, es ist nach Mitternacht, auf der Straße zu suchen hat. Neugierig geworden spricht er sie an. Auf seine Fragen gibt sie knappe, ausweichende Antworten. Aber plötzlich fängt sie an, hässlich zu lachen. Fisher will es erst nicht wahrhaben, aber es gibt keinen Zweifel: Die Stimme der Frau kommt aus einem Korb am Arm der Frau. Galant bietet Fisher der seltsamen Person an, ihr »Gepäck« zu tragen. Als er seinen Vorschlag macht, ertönt wieder das Lachen, und zwar aus dem Korb«! Da ist ein Tuch zur Seite gerutscht. Darunter liegt der Kopf der Frau. Der entsetzte Mann wirft den Korb weit von sich und rennt in  Todesangst los. Die Frau ergreift ihr Haupt und schleudert es Fisher nach. Schmutz spritzt zur Seite, als der Kopf in einer Pfütze aufschlägt. Lehm klebt im langen braunen Haar. Und das abgeschlagene Haupt stößt wie der ein markerschütterndes, hässliches Lachen aus.

Fisher flieht. Er  rennt so schnell er kann. Die unheimliche Erscheinung folgt ihm. Erst als er über einen kleinen Bach springt, bleibt sie zurück. Das unheimliche Phänomen wird immer wieder beschrieben . So heißt es von Anne Boleyn (*etwa 1504, †etwa 1536), der zweiten Frau Heinrich VIII., der Mutter von Elisabeth I.: Nach ihrer Enthauptung erschien sie immer wieder als scheinbar schwerelos dahinschwebendes Wesen, mit dem Kopf unter dem Arm. Zahllose Zeugen wollen sie bis in unsere Tage in prachtvollen Gewändern nahe beim Londoner Tower gesehen haben. Wie Anne Boleyn wurde auch Lord Simon Lovat (*etwa 1667, †1747) hingerichtet. Er war maßgeblich an einer Verschwörung gegen die Monarchie beteiligt. Nach seiner Enthauptung soll der Adelige wieder aufgetaucht sein, und zwar kopflos. Das sagt man auch dem Clanchef Ewen Mac Laine aus Mull nach. Er fiel auf dem Schlachtfeld und tauchte als kopfloser Geist immer wieder auf seinem Anwesen auf.

Wer freilich annimmt, dass derlei Erscheinungen nur auf tragische Geschehnisse längst vergangener Jahrhunderte zurückgehen, irrt. So ereignete sich um 1905 bei Crossett, Arkansas, USA, ein tragischer Unfall. Ein Bahnarbeiter wurde, als er etwas am stehenden Zug überprüfen wollte, enthauptet. Seither wird er häufig unweit von der Unfallstelle als ruhelos wandelnder Geist ohne Kopf gesehen. Im Dezember 1931 spielte sich in Gurdon, Arkansas, eine Tragödie ab. Vorarbeiter Will McClain entließ den Bahnarbeiter Lewis McBride wegen »Nachlässigkeit im Dienst«. Der ermordete daraufhin seinen Vorgesetzten. Der Täter wurde im Februar 1932 wegen dieses Verbrechens hingerichtet. Wenige Tage später sah man seinen kopflosen Geist ganz in der Nähe des Tatorts. Manchmal ist er klar zu erkennen. Häufig wird aber nur ein unheimliches, fahles Licht ausgemacht.

Foto 5: Der Heilige Denis...
In North Carolina bei Mintz spukt angeblich bis in unsere Tage ein Bahningenieur. Er kam bei einem Zugunfall ums Leben. In den Sechzigern sah man sein »Geisterlicht« fast jede Nacht. Als dann 1980 die Schienen abgebaut, die Bahnstrecke stillgelegt wurde, hörte der Spuk auf. Prof. Hans Schindler Bellamy (*1901; †1982) wertet: »Es gibt eine Fülle von Hinweisen auf Geistererscheinungen, von Wesen ohne Kopf. Sie verdeutlichen, wie Spukphänomene überhaupt, eine uralte Vorstellung: Der Tod bedeutet kein endgültiges Aus. Vielmehr überlebt etwas vom Menschen seinen physischen Tod. Dieses Etwas kann anscheinend sichtbar werden. Eine Frage stellt sich: Kann man an derlei Überleben eines Teils des Menschen nur glauben? Oder ist es möglich, dieses Etwas zu beweisen, im Sinne von wissenschaftlicher Exaktheit?«

Ein Leser lud mich kürzlich nach Münsingen-Bonndorf ein. Zu nächtlicher Stunde könne ich da auf einsamer Landstraße einer unheimlichen Spukgestalt begegnen. Die Frau habe »vor Jahrhunderten  ihren Ehemann ermordet, um sich ihrem Geliebten zuzuwenden. Die Täterin wurde aber bald überführt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ihr wurde der Kopf abgeschlagen. Zur Strafe muss sie seither als Geist mit dem Kopf unter dem Arm Nacht für Nacht umherwamdeln. Irgendwann wird sie erlöst werden.« Auch anno 2016 sei das unheimliche Phänomen regelmäßig zu beobachten. »Angst muss man keine haben! Die Geisterfrau mit dem Kopf unter’m Arm war immer freundlich und friedlich!« Ich muss zugeben, dass ich bislang die Einladung nicht angenommen habe.

Literatur
Langbein, Walter-Jörg: »Die großen Rätsel der letzten 2.500 Jahre«, Berlin 1997
Sieveking, Paul: »Headless railmen shining on the line«, in »The Sunday Telegraph«, 6. April 1997

Zu den Fotos
Foto 1:Der Heilige Denis trägt sein abgeschlagenes Haupt. Wikimedia commons Thesupermat
Foto 2: ... trägt sein Haupt. Foto Walter-Jörg Langbein

Foto 3: Klaus Störtebeker (?). Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 4: Denkmal für Störtebeker. Seeräuber Klaus Störtebeker in Marienhafe, Ostfriesland. wikimedia commons Anaconda74
Foto 5: Weitere Statue vom Heiligen Denis, Avignin 15. Jahrhundert.

492. »Unsterbliche Energie und Spukerscheinungen«,
Teil 492 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 23. Juni 2019



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