Samstag, 26. Dezember 2020

571. »Jung und schön, wie eine Königin«

Teil 571 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein



Elise Gleichmann hat uns eine mysteriöse Sage überliefert: Zur Johannisnacht öffnet eine wunderschöne »Ährenkönigin« mit Hilfe von jeweils einer Lilie eine Art Tor im Fels, ein Schloss erscheint, sie schließt das Schlosstor und dann eine Tür zum Schloss auf. Kaum ist sie im Schloss verschwunden, verschwindet auch das Tor im Fels. Eine »goldene Ähre« bleibt zurück. Die Funktion der »goldenen Ähre« bleibt unklar.

Foto 1: Elise Gleichmann,
zeitgenössisches Porträt

Neben Elise Gleichmann hielt auch der Heimatforscher und Schriftsteller Hans Seiffert (* 1894; † 1968) die Sage von der Ährenkönigin fest (2). Natürlich sind beide Versionen nicht Wort für Wort identisch. Sie wurden von Menschen unabhängig voneinander mündlich weiter gereicht. So entstanden zwangsläufig voneinander abweichende Variationen, die aber in den wesentlichen Aussagen übereinstimmen. Auch wenn die verschiedenen Varianten unabhängig voneinander weitererzählt und Unterschiede womöglich verstärkt wurden, so bleibt doch die Sage in ihren wichtigen Kernaussagen erhalten. In der Version von Hans Seifert der Sage von der »Ährenkönigin« heißt es ausdrücklich, dass der junge Mann nach seiner ersten Begegnung mit dem Unfassbaren die »goldene Ähre« an sich nahm (3):

»Als die Königin verschwunden war, fiel das Felsentor wieder zu. Alles war wie zuvor, feierlich und still. Jetzt erst betrat der junge Mann den Waldsteig und wanderte den Weg, den zuvor die Aehrenkönigin gegangen war. Dort, wo die Farne standen, lag eine goldene Aehre. Rasch hob er sie auf und barg sie in seinem Gewand.« Ein Jahr später, so lesen wir bei Seifert, geschah es wieder in der Johannisnacht. Da hatte der junge Mann die »goldene Ähre« wieder dabei. Er hatte die »goldene Ähre« in der Hand (4).

Bei Gleichmann wird beim ersten Erlebnis des jungen Mannes bei der Burg nicht erwähnt, dass er die »goldene Ähre« an sich genommen hat. Wir müssen aber davon ausgehen, dass er das getan hat. Heißt es doch in der Version der Sage bei Gleichmann, dass der junge Mann, bevor er sich ein Jahr später, erneut in der Johannisnacht, zur Burg aufmachte, seinen Angehörigen eine Nachricht hinterlassen hat (5):

»Er lebte bis dahin wie im Traum und schrieb am letzten Tage einen Zettel an seine Angehörigen, worauf er bemerkte, daß er entweder der glücklichste der Menschen werden würde, oder überhaupt nicht mehr leben werde. Er wolle zur Nordeck hinauf, wo das Glück auf ihn warte. Wenn er nicht wiederkehre, solle man das versiegelte Papier in seinem Koffer öffnen und lesen; die darin befindliche Ähre erkläre alles. Diese Worte waren die letzten Lebenszeichen des jungen Mannes. Er blieb verschollen. Nie mehr kehrte er zurück.«

Foto 2: »Die Aehrenkönigin« (1952)
von Hans Seiffert

Nach der Gleichmann-Version muss der junge Mann bei seinem ersten Erlebnis bei der Burgruine die goldene Ähre aufgehoben haben, nachdem die Ährenkönigin verschwunden war. Sonst hätte der junge Mann die seltsame Ähre nicht in seinem Koffer für seine Anverwandten hinterlassen können. So stellt sich die Frage nach der Funktion der »goldenen Ähre«. Und wer oder was war die »Ährenkönigin«? Bei Seifert lesen wir folgende kurze Beschreibung (6):

»Jung und schön, wie eine Königin, schritt sie daher, auf dem Kopfe trug sie ein zierliches Aehrenkrönchen… « Die »Aehrenkönigin«, so lesen wir bei Hans Seiffert, berührt den Felsen mit einer der Lilien. Schon »tat sich ein Felsentor auf«. Genau ein Jahr nach dem ersten wundersamen Geschehen ist der junge Mann wieder am gleichen Ort (7):

»Da – an der gleichen Stelle wie im Vorjahre sah er die Lilien stehen. Er pflückte sie mit zitternder Hand; schritt damit zum Felsen und öffnete ihn. Da hörte er wieder jenes wundersame Lied. Wie im Träume ging er weiter und weiter …. , die Aehrenkönigin erwartete ihn am Schloßtor und führte ihn in ihr Reich, aus dem er nie mehr zurückkam.«

Foto 3: Hier soll der Sage nach
die Ährenkönigin erschienen
sein.

Man erkennt ohne Zweifel in der »Ährenkönigin« – sie lebt in einem Schloss hinter einem Felsentor – eine Erdgöttin oder Naturgöttin in der Umschreibung einer Sage wieder. Die »Ährenkönigin« geht, nach meinen umfangreichen Studien in Sachen »Göttin« ist das so, zurück auf die »große schöpferische Erdmutter«, auf die »Göttin der Fruchtbarkeit und der Getreideernte«, auf die »Göttin von Geburt und Tod« und auf die »Königin der Ernte«. Den sexuellen Aspekt verschweigt die Sage von der »Ährenkönigin« im christlichen Umfeld diskret.

Ihre Urahnin hat womöglich schon in Mesopotamien geherrscht. In Ägypten hatte sie eine mächtige Verwandte: Baba. In Russland verkam sie zu Baba-Yaga, mehr Mütterchen als Göttin. Im Slawischen spukt sie als hübsche Waldfrau umher. Mich wundert es nicht, dass sie Teil einer »Göttinnentriade« ist. Baba Jaga wird auch als das dritte Mitglied einer dreifaltigen Göttin verehrt. Diese Dreifaltigkeit besteht aus der Jungfrau, der Mutter und dem alten Weib. Die Dreifaltigkeit ist für Tod und Wiedergeburt zuständig. In manchen Erzählungen lebt sie mit zwei Schwestern zusammen, die den gleichen Namen tragen. Diese Dreifaltigkeit ergibt die vollständige Göttin: Jungfrau, Mutter und altes Weib.

Vorsicht: Entfernen wir uns gedanklich etwas weit von der »Ährenkönigin«? Nach Sir James George Frazer (*1854; † 1941), einem schottischen Ethnologen und Philologen, darf man die »Ährenkönigin« als »Kornmutter« verstehen. Sir Frazer schreibt (8): »Europäische Völker der Antike und der neueren Zeit sehen mit der Personifizierung des Korns als mütterliche Göttin nicht vereinzelt da. Derselbe einfache Gedanke ist auch ackerbautreibenen Rassen in fernen Weltteilen geläufig und von ihnen auch auf andere Getreidesorten als Gerste und Weizen angewendet worden. Wenn Europa seine Weizen- und Getreidemutter hat, so kennt Amerika eine Maismutter und Ostindien seine Reismutter.«

Die »Getreidemutter« darf mit dem »Vegetationsgeist« (9) identifiziert werden. Der Vegetationsgeist, so Frazier, werde häufig im Frühjahr durch eine Königin dargestellt. In Bulgarien fertigten die Bauern eine Frauengestalt aus Getreidegarben an, steckten sie in Frauenkleidung und trugen das verehrte Wesen ehrfürchtig um ihr Dorf herum. Genannt wurde die Getreidepuppe »Kornmutter« oder »Kornkönigin« (10). In Schweden – um ein weiteres Beispiel aus einer wahren Flut von Sagen und Bräuchen zu zitieren – wurde in manchen Gegenden der »Kornfrau« eine »Ährenkrone« aufgesetzt (11).

Die »Ährenkönigin« der oberfränkischen Sagenwelt kommt aus ihrem Schloss und wartet auf den jungen Mann. Den holt sich die Königin in ihr Schloss hinter dem mysteriösen Felsentor.

Andrea Senf, Dozentin bei der »Volkshochschule Kulmbach« und der »Schreibstube Franken« ist die wahrscheinlich beste Kennerin von Elisa Gleichmanns Werk. Andrea Senf ist es zu verdanken, dass die von Elise Gleichmann gesammelten fränkischen Sagen nicht in Vergessenheit geraten. So hat sie das wichtige Werk »Billmesschnitzer und Hulzfraala/ Fränkische Sagensammlung von Elise Gleichmann« herausgegeben (12). Ausgangspunkt für das wichtige Sagenbuch waren die handschriftlichen Aufzeichnungen von Elise Gleichmann, die zum Teil mühsam entziffert werden mussten. Der Aufwand hat sich wirklich gelohnt.


Foto 4: »Billmesschnitzer und Hulzfraala/
Fränkische Sagensammlung
von Elise Gleichmann« herausgegeben
von Andrea Senf

Mir scheint, dass in der Sage von der »Ährenkönigin« der jahrtausendealte Kult der »Heiligen Hochzeit« angedeutet wird. In der ältesten Form der »Heiligen Hochzeit« werden eine göttliche Himmelskönigin und ein irdischer Mann zum Paar. Nach dem Vollzug der »Heiligen Hochzeit« stirbt der Bräutigam, wird dann aber von der »Himmelskönigin« wieder aus dem Totenreich in die Welt der Lebenden zurück geholt. Diese magische Handlung hatte Jahr für Jahr ein lebenswichtiges, lebensrettendes Ziel: Die Natur stirbt jedes Jahr, sei es im Winter, sei es in der Trockenzeit. Alles Leben ist bedroht. Werden Pflanzen sterben, Tiere und Menschen verhungern? Steht das Ende alles Lebenden bevor?

Damit das Leben weiter fortbestehen kann, muss die Natur nach der Trockenzeit oder nach dem Winter wieder aus der Todesstarre geholt werden. So steigt dann die »Himmelskönigin« ins Totenreich und holt den Bräutigam wieder zurück ins Leben und zelebriert die Wiederbelebung der Natur. Die Natur erwacht zu neuem Leben.

Bei der Zeremonie de »heiligen Vermählung«, die alljährlich wiederholt wurde,  verkörperten Menschen die »Himmelsgöttin« und den »Himmelsgott«, da die überirdischen Originale offenbar derartigen rituellen Feierlichkeiten fernzubleiben pflegten. Manchmal übernahm ein »priesterlicher König« den Part des göttlichen Bräutigams. Für die Menschen freilich wurden offenbar die agierende Frau zur Himmelsgöttin und der mitwirkende männliche Mensch zum »Himmelsgott«. Mit dem Aufkommen des Patriarchats wird die »Heilige Hochzeit« beibehalten, aber die Himmelskönigin wird durch einen Himmelskönig ersetzt. Zeus, der Himmelsgott, paart sich dann im »Heiligen Akt« mit der göttlichen Hera. Wir erinnern uns: Milch der Hera fällt auf fruchtbaren Boden und Lilien sprießen, die Blumen, die das Felsentor, das Schlosstor und die Schlosstür öffneten.

Wichtige Facebook-Links
»Elise Gleichmann/ Gesellschafts- und Kultur-Website«: https://www.facebook.com/Elise-Gleichmann-2385859241487954
»Schreibstube Franken – Andrea Senf«: https://schreibstube-franken.jimdo.com/ (Stand 11.09.2020)

Fußnoten
(1) »Die Ährenkönigin« in »Von Geistern umwittert – Oberfränkische Volkssagen gesammelt und nacherzählt von Elise Gleichmann, gesichtet und gedeutet von Peter Schneider«, Lichtenfels 1927, Seiten 191-193 (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(2) Seiffert, Hans: »Die Aehrenkönigin« in »Die Aehrenkönigin«, 2. Auflage, Helmbrechts/ Obfr. 1952, Seiten 33+34. (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(3) Ebenda, Zeilen 17-21 von oben. (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(4) Ebenda, 9. Zeile von unten. (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(5) »Die Ährenkönigin« in »Von Geistern umwittert – Oberfränkische Volkssagen gesammelt und nacherzählt von Elise Gleichmann, gesichtet und gedeutet von Peter Schneider«, Lichtenfels 1927, Seite 192, 4. Zeile von unten bis Seite 193, 6. Zeile von oben. (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(6) Seiffert, Hans: »Die Aehrenkönigin« in »Die Aehrenkönigin«, 2. Auflage, Helmbrechts/ Obfr. 1952,, Seite 34, Zeilen 7 und 8 von oben. (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(7) Ebenda, 6.-1. Zeile von unten. (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(8) Frazer, Sir James George: »Der Goldene Zweig/ Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker«, Leipzig 1928, S. 600
(9) Ebenda, S. 191, 29.-21. Zeile von unten
(10) Ebenda, S. 590, 10.-12. Zeile von oben
(11) Ebenda, S. 591, 17.-19. Zeile von oben
(12) Senf, Andrea: »Billmesschnitzer und Hulzfraala/ Fränkische Sagensammlung von Elise Gleichmann«, Kulmbach 2019

Zu den Fotos
Foto 1: Elise Gleichmann, zeitgenössisches Porträt. Quelle: Coverfoto von Senf, Andrea (Herausgeberin): »Billmesschnitzer und Hulzfraala/ Fränkische Sagensammlung von Elise Gleichmann«, Kulmbach 2019
Foto 2: »Die Aehrenkönigin von Hans Seiffert«. Siehe Fußnote 2!
Foto 3: Hier soll der Sage nach die »Ährenkönigin« erschienen sein. Foto Buchcover von
»Die Aehrenkönigin von Hans Seiffert«. Siehe Fußnote 2!
Foto 4: »Billmesschnitzer und Hulzfraala/ Fränkische Sagensammlung von Elise Gleichmann« herausgegeben von Andrea Senf.

572. »Burgruinen und Sagenwelten«,
Teil 572 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 03. Januar 2021

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