Posts mit dem Label Gleichmann werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Gleichmann werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Samstag, 26. Dezember 2020

571. »Jung und schön, wie eine Königin«

Teil 571 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein



Elise Gleichmann hat uns eine mysteriöse Sage überliefert: Zur Johannisnacht öffnet eine wunderschöne »Ährenkönigin« mit Hilfe von jeweils einer Lilie eine Art Tor im Fels, ein Schloss erscheint, sie schließt das Schlosstor und dann eine Tür zum Schloss auf. Kaum ist sie im Schloss verschwunden, verschwindet auch das Tor im Fels. Eine »goldene Ähre« bleibt zurück. Die Funktion der »goldenen Ähre« bleibt unklar.

Foto 1: Elise Gleichmann,
zeitgenössisches Porträt

Neben Elise Gleichmann hielt auch der Heimatforscher und Schriftsteller Hans Seiffert (* 1894; † 1968) die Sage von der Ährenkönigin fest (2). Natürlich sind beide Versionen nicht Wort für Wort identisch. Sie wurden von Menschen unabhängig voneinander mündlich weiter gereicht. So entstanden zwangsläufig voneinander abweichende Variationen, die aber in den wesentlichen Aussagen übereinstimmen. Auch wenn die verschiedenen Varianten unabhängig voneinander weitererzählt und Unterschiede womöglich verstärkt wurden, so bleibt doch die Sage in ihren wichtigen Kernaussagen erhalten. In der Version von Hans Seifert der Sage von der »Ährenkönigin« heißt es ausdrücklich, dass der junge Mann nach seiner ersten Begegnung mit dem Unfassbaren die »goldene Ähre« an sich nahm (3):

»Als die Königin verschwunden war, fiel das Felsentor wieder zu. Alles war wie zuvor, feierlich und still. Jetzt erst betrat der junge Mann den Waldsteig und wanderte den Weg, den zuvor die Aehrenkönigin gegangen war. Dort, wo die Farne standen, lag eine goldene Aehre. Rasch hob er sie auf und barg sie in seinem Gewand.« Ein Jahr später, so lesen wir bei Seifert, geschah es wieder in der Johannisnacht. Da hatte der junge Mann die »goldene Ähre« wieder dabei. Er hatte die »goldene Ähre« in der Hand (4).

Bei Gleichmann wird beim ersten Erlebnis des jungen Mannes bei der Burg nicht erwähnt, dass er die »goldene Ähre« an sich genommen hat. Wir müssen aber davon ausgehen, dass er das getan hat. Heißt es doch in der Version der Sage bei Gleichmann, dass der junge Mann, bevor er sich ein Jahr später, erneut in der Johannisnacht, zur Burg aufmachte, seinen Angehörigen eine Nachricht hinterlassen hat (5):

»Er lebte bis dahin wie im Traum und schrieb am letzten Tage einen Zettel an seine Angehörigen, worauf er bemerkte, daß er entweder der glücklichste der Menschen werden würde, oder überhaupt nicht mehr leben werde. Er wolle zur Nordeck hinauf, wo das Glück auf ihn warte. Wenn er nicht wiederkehre, solle man das versiegelte Papier in seinem Koffer öffnen und lesen; die darin befindliche Ähre erkläre alles. Diese Worte waren die letzten Lebenszeichen des jungen Mannes. Er blieb verschollen. Nie mehr kehrte er zurück.«

Foto 2: »Die Aehrenkönigin« (1952)
von Hans Seiffert

Nach der Gleichmann-Version muss der junge Mann bei seinem ersten Erlebnis bei der Burgruine die goldene Ähre aufgehoben haben, nachdem die Ährenkönigin verschwunden war. Sonst hätte der junge Mann die seltsame Ähre nicht in seinem Koffer für seine Anverwandten hinterlassen können. So stellt sich die Frage nach der Funktion der »goldenen Ähre«. Und wer oder was war die »Ährenkönigin«? Bei Seifert lesen wir folgende kurze Beschreibung (6):

»Jung und schön, wie eine Königin, schritt sie daher, auf dem Kopfe trug sie ein zierliches Aehrenkrönchen… « Die »Aehrenkönigin«, so lesen wir bei Hans Seiffert, berührt den Felsen mit einer der Lilien. Schon »tat sich ein Felsentor auf«. Genau ein Jahr nach dem ersten wundersamen Geschehen ist der junge Mann wieder am gleichen Ort (7):

»Da – an der gleichen Stelle wie im Vorjahre sah er die Lilien stehen. Er pflückte sie mit zitternder Hand; schritt damit zum Felsen und öffnete ihn. Da hörte er wieder jenes wundersame Lied. Wie im Träume ging er weiter und weiter …. , die Aehrenkönigin erwartete ihn am Schloßtor und führte ihn in ihr Reich, aus dem er nie mehr zurückkam.«

Foto 3: Hier soll der Sage nach
die Ährenkönigin erschienen
sein.

Man erkennt ohne Zweifel in der »Ährenkönigin« – sie lebt in einem Schloss hinter einem Felsentor – eine Erdgöttin oder Naturgöttin in der Umschreibung einer Sage wieder. Die »Ährenkönigin« geht, nach meinen umfangreichen Studien in Sachen »Göttin« ist das so, zurück auf die »große schöpferische Erdmutter«, auf die »Göttin der Fruchtbarkeit und der Getreideernte«, auf die »Göttin von Geburt und Tod« und auf die »Königin der Ernte«. Den sexuellen Aspekt verschweigt die Sage von der »Ährenkönigin« im christlichen Umfeld diskret.

Ihre Urahnin hat womöglich schon in Mesopotamien geherrscht. In Ägypten hatte sie eine mächtige Verwandte: Baba. In Russland verkam sie zu Baba-Yaga, mehr Mütterchen als Göttin. Im Slawischen spukt sie als hübsche Waldfrau umher. Mich wundert es nicht, dass sie Teil einer »Göttinnentriade« ist. Baba Jaga wird auch als das dritte Mitglied einer dreifaltigen Göttin verehrt. Diese Dreifaltigkeit besteht aus der Jungfrau, der Mutter und dem alten Weib. Die Dreifaltigkeit ist für Tod und Wiedergeburt zuständig. In manchen Erzählungen lebt sie mit zwei Schwestern zusammen, die den gleichen Namen tragen. Diese Dreifaltigkeit ergibt die vollständige Göttin: Jungfrau, Mutter und altes Weib.

Vorsicht: Entfernen wir uns gedanklich etwas weit von der »Ährenkönigin«? Nach Sir James George Frazer (*1854; † 1941), einem schottischen Ethnologen und Philologen, darf man die »Ährenkönigin« als »Kornmutter« verstehen. Sir Frazer schreibt (8): »Europäische Völker der Antike und der neueren Zeit sehen mit der Personifizierung des Korns als mütterliche Göttin nicht vereinzelt da. Derselbe einfache Gedanke ist auch ackerbautreibenen Rassen in fernen Weltteilen geläufig und von ihnen auch auf andere Getreidesorten als Gerste und Weizen angewendet worden. Wenn Europa seine Weizen- und Getreidemutter hat, so kennt Amerika eine Maismutter und Ostindien seine Reismutter.«

Die »Getreidemutter« darf mit dem »Vegetationsgeist« (9) identifiziert werden. Der Vegetationsgeist, so Frazier, werde häufig im Frühjahr durch eine Königin dargestellt. In Bulgarien fertigten die Bauern eine Frauengestalt aus Getreidegarben an, steckten sie in Frauenkleidung und trugen das verehrte Wesen ehrfürchtig um ihr Dorf herum. Genannt wurde die Getreidepuppe »Kornmutter« oder »Kornkönigin« (10). In Schweden – um ein weiteres Beispiel aus einer wahren Flut von Sagen und Bräuchen zu zitieren – wurde in manchen Gegenden der »Kornfrau« eine »Ährenkrone« aufgesetzt (11).

Die »Ährenkönigin« der oberfränkischen Sagenwelt kommt aus ihrem Schloss und wartet auf den jungen Mann. Den holt sich die Königin in ihr Schloss hinter dem mysteriösen Felsentor.

Andrea Senf, Dozentin bei der »Volkshochschule Kulmbach« und der »Schreibstube Franken« ist die wahrscheinlich beste Kennerin von Elisa Gleichmanns Werk. Andrea Senf ist es zu verdanken, dass die von Elise Gleichmann gesammelten fränkischen Sagen nicht in Vergessenheit geraten. So hat sie das wichtige Werk »Billmesschnitzer und Hulzfraala/ Fränkische Sagensammlung von Elise Gleichmann« herausgegeben (12). Ausgangspunkt für das wichtige Sagenbuch waren die handschriftlichen Aufzeichnungen von Elise Gleichmann, die zum Teil mühsam entziffert werden mussten. Der Aufwand hat sich wirklich gelohnt.


Foto 4: »Billmesschnitzer und Hulzfraala/
Fränkische Sagensammlung
von Elise Gleichmann« herausgegeben
von Andrea Senf

Mir scheint, dass in der Sage von der »Ährenkönigin« der jahrtausendealte Kult der »Heiligen Hochzeit« angedeutet wird. In der ältesten Form der »Heiligen Hochzeit« werden eine göttliche Himmelskönigin und ein irdischer Mann zum Paar. Nach dem Vollzug der »Heiligen Hochzeit« stirbt der Bräutigam, wird dann aber von der »Himmelskönigin« wieder aus dem Totenreich in die Welt der Lebenden zurück geholt. Diese magische Handlung hatte Jahr für Jahr ein lebenswichtiges, lebensrettendes Ziel: Die Natur stirbt jedes Jahr, sei es im Winter, sei es in der Trockenzeit. Alles Leben ist bedroht. Werden Pflanzen sterben, Tiere und Menschen verhungern? Steht das Ende alles Lebenden bevor?

Damit das Leben weiter fortbestehen kann, muss die Natur nach der Trockenzeit oder nach dem Winter wieder aus der Todesstarre geholt werden. So steigt dann die »Himmelskönigin« ins Totenreich und holt den Bräutigam wieder zurück ins Leben und zelebriert die Wiederbelebung der Natur. Die Natur erwacht zu neuem Leben.

Bei der Zeremonie de »heiligen Vermählung«, die alljährlich wiederholt wurde,  verkörperten Menschen die »Himmelsgöttin« und den »Himmelsgott«, da die überirdischen Originale offenbar derartigen rituellen Feierlichkeiten fernzubleiben pflegten. Manchmal übernahm ein »priesterlicher König« den Part des göttlichen Bräutigams. Für die Menschen freilich wurden offenbar die agierende Frau zur Himmelsgöttin und der mitwirkende männliche Mensch zum »Himmelsgott«. Mit dem Aufkommen des Patriarchats wird die »Heilige Hochzeit« beibehalten, aber die Himmelskönigin wird durch einen Himmelskönig ersetzt. Zeus, der Himmelsgott, paart sich dann im »Heiligen Akt« mit der göttlichen Hera. Wir erinnern uns: Milch der Hera fällt auf fruchtbaren Boden und Lilien sprießen, die Blumen, die das Felsentor, das Schlosstor und die Schlosstür öffneten.

Wichtige Facebook-Links
»Elise Gleichmann/ Gesellschafts- und Kultur-Website«: https://www.facebook.com/Elise-Gleichmann-2385859241487954
»Schreibstube Franken – Andrea Senf«: https://schreibstube-franken.jimdo.com/ (Stand 11.09.2020)

Fußnoten
(1) »Die Ährenkönigin« in »Von Geistern umwittert – Oberfränkische Volkssagen gesammelt und nacherzählt von Elise Gleichmann, gesichtet und gedeutet von Peter Schneider«, Lichtenfels 1927, Seiten 191-193 (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(2) Seiffert, Hans: »Die Aehrenkönigin« in »Die Aehrenkönigin«, 2. Auflage, Helmbrechts/ Obfr. 1952, Seiten 33+34. (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(3) Ebenda, Zeilen 17-21 von oben. (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(4) Ebenda, 9. Zeile von unten. (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(5) »Die Ährenkönigin« in »Von Geistern umwittert – Oberfränkische Volkssagen gesammelt und nacherzählt von Elise Gleichmann, gesichtet und gedeutet von Peter Schneider«, Lichtenfels 1927, Seite 192, 4. Zeile von unten bis Seite 193, 6. Zeile von oben. (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(6) Seiffert, Hans: »Die Aehrenkönigin« in »Die Aehrenkönigin«, 2. Auflage, Helmbrechts/ Obfr. 1952,, Seite 34, Zeilen 7 und 8 von oben. (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(7) Ebenda, 6.-1. Zeile von unten. (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(8) Frazer, Sir James George: »Der Goldene Zweig/ Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker«, Leipzig 1928, S. 600
(9) Ebenda, S. 191, 29.-21. Zeile von unten
(10) Ebenda, S. 590, 10.-12. Zeile von oben
(11) Ebenda, S. 591, 17.-19. Zeile von oben
(12) Senf, Andrea: »Billmesschnitzer und Hulzfraala/ Fränkische Sagensammlung von Elise Gleichmann«, Kulmbach 2019

Zu den Fotos
Foto 1: Elise Gleichmann, zeitgenössisches Porträt. Quelle: Coverfoto von Senf, Andrea (Herausgeberin): »Billmesschnitzer und Hulzfraala/ Fränkische Sagensammlung von Elise Gleichmann«, Kulmbach 2019
Foto 2: »Die Aehrenkönigin von Hans Seiffert«. Siehe Fußnote 2!
Foto 3: Hier soll der Sage nach die »Ährenkönigin« erschienen sein. Foto Buchcover von
»Die Aehrenkönigin von Hans Seiffert«. Siehe Fußnote 2!
Foto 4: »Billmesschnitzer und Hulzfraala/ Fränkische Sagensammlung von Elise Gleichmann« herausgegeben von Andrea Senf.

572. »Burgruinen und Sagenwelten«,
Teil 572 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 03. Januar 2021

Sonntag, 20. Dezember 2020

570. »Drei Schlüssel zur Welt hinter dem Fels«

Teil 570 der Serie »Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
 


Elise Gleichmann (* 12. August 1854 in Kulmbach; † 9. Juli 1944 ebenda) war, so verrät ein knapp gefasster Wikipedia-Artikel (1), »eine in der Region Kulmbach tätige Mundartdichterin, Volkskundlerin und Sagensammlerin«. Elise Gleichmann, Tochter des Kulmbacher Bürgers und Bierbrauers Johann Georg Friedrich Hollweg, heiratete anno 1873 in Kulmbach den Forstgehilfen Gustav Gleichmann, der schließlich zum Förster befördert wurde.

Foto 1: Die Burgruine Nordeck im Winter (Ausschnitt).
Foto 1: Die Burgruine Nordeck im Winter (Ausschnitt).

Elise Gleichmann hat einen ganz besonderen Schatz entdeckt, den die meisten ihrer Zeitgenossen gering achteten: die oberfränkischen Volkssagen. Wie die Gebrüder Jacob Grimm (*1785; †1863) und Wilhelm Grimm (*1786; †1859) sammelte Elise Gleichmann systematisch Sagen aus ihrer fränkischen Heimat. Sie stöberte nicht in Bibliotheken. Sie ließ sich von unzähligen »alten Frauen« oberfränkische Volkssagen erzählen und notierte alles. Viele Sagen hielt sie im fränkischen Dialekt fest, andere erzählte sie in Hochdeutsch nach. Mit 55 Jahren wurde Elise Gleichmann Witwe. Franz Karl Freiherr von Guttenberg, renommierter Heimatforscher seiner Zeit, kannte ihre Sammelleidenschaft. Er bestärkte die Försterwitwe. Mit Feuereifer intensivierte sie ihr Hobby und legte ein kostbares Archiv an. Rund tausend Sagen konnte sie schriftlich fixieren.

Bereits 1927 erschien ein Bruchteil der von ihr gesammelten Sagen in einem nur 240 Seiten umfassenden Bändchen (2). Es wäre wünschenswert, die von Elise Gleichmann zusammengetragenen Sagen komplett zu veröffentlichen. Im Stadtarchiv zu Kulmbach gibt es einiges an Material. Dort wird auch die handschriftliche Autobiographie von Elise Gleichmann aus dem Jahr 1937 aufbewahrt. »Die Ährenkönigin« (3) ist eine interessante Sage, die von einer mysteriösen Welt jenseits eines Portals im Fels berichtet.

Foto 2: Burgruine Nordeck Bergfried, aus nördlicher Richtung.


Die geheimnisvollen Ereignisse, von denen die Sage zu berichten weiß, fanden in der »Johannisnacht« statt. Am »Johannistag« (auch »Johanni«, »Johannisfest« und »Johannestag« genannt) feiert man in der katholischen Kirche das »Hochfest der Geburt Johannes’ des Täufers«. Den Termin, 24. Juni, hat die katholische Kirche gewiss nicht zufällig festgelegt. Zwischen dem 20. und dem 22. Juni zelebrierte die heidnische Welt die »Sommersonnwende«, und das nicht unbedingt als Fest der Freude. Erreicht doch zur Sommersonnwende die Sonne die größte Mittagshöhe über dem Horizont. Von da an geht es erst einmal »bergab«. Die Sonne sinkt, verliert an Kraft. Hebst und Winter nahen. Die Natur scheint im Winter zu erstarren, ja zu sterben. Aufwärts geht es erst wieder zur Wintersonnwende. »Altes und neues Wissen zum Jahreskreis« klärt auf (4):

»Die Wintersonnwende ist eine der heiligsten Sonnenfeiern und findet am 21. Dezember statt. Sie bezeichnet die tiefste Nacht des Jahres – wird deswegen auch Mutternacht, althochdeutsch Modranecht, genannt. In dieser Nacht gebiert die Göttin tief in der finsteren Erde in der stillsten aller Stunden das wiedergeborene Sonnenkind. Diesen Mythos können Sie in allen Kulturen der Welt wiederfinden. Am deutlichsten manifestiert ist es bei uns in Weihnachten und dem Christuskind. Weihnacht ist ja nichts anderes als Weihenacht, ist gleich geweihte Nacht. Oder wie in vielen Weihnachtsliedern besungen ›Heilige Nacht‹.« Zurück zur »Johannisnacht«. Von geradezu magischer Bedeutung war auch im christlichen Abendland die »Johannisnacht«, die Nacht vor dem »Johannistag«. Heidnischen Ursprungs mögen auch von der christlichen Kirche nicht unbedingt gern gesehene Bräuche wie der »Tanz um das Johannisfeuer« (5) sein.

An heidnische Feste, die zu Ehren von Sonnengottheiten ausgerichtet wurden, erinnern auch heute noch die »Sonnenfeuer« in der »Johannisnacht«. Geduldet wurden »christliche« Sonnwendfeste in der »Johannisnacht« schon im 12. Jahrhundert. Vom 14. Jahrhundert an gehörten Feiern mit prasselnden Johannisfeuern zum christlichen Brauchtum. Zurück zur Sage »Die Ährenkönigin« (6): »Einst ging in der Johannisnacht ein junger Mann an der Burgruine Nordeck vorüber, die vom Mondlicht hell beleuchtet dalag.« »Burg Nordeck« wurde um das Jahr 1100 von den Grafen von Henneberg erbaut. Anno 1151 erwarben Steinach (heute Stadtsteinach) und Bischof Eberhard II. von Bamberg das stattliche Bauwerk. Die Burg wurde rund drei Jahrhunderte später, anno 1438, im Kleinkrieg der Waldenfelser gegen den Bischof von Bamberg gestürmt und verwüstet. Im Bauernkrieg von 1525 wurde sie niedergebrannt.

Erhalten ist bis heute die »Burgruine Nordeck«. Sie ist frei zugänglich und kann besucht werden. Wer sich vor Ort umschauen möchte: Die Ruine, bestehend aus den Resten eines runden Wohnturmes, eines Gefängnisturmes und einiger Grundmauern, ist nordöstlich von Stadtsteinach im oberfränkischen Landkreis Kulmbach in Oberfranken leicht zu finden. Das einst imposante Bauwerk wurde soweit möglich 2014 generalsaniert. Besonders eindrucksvoll ist der runde Bergfried, aus nördlicher Richtung betrachtet. Wie eine Illustration aus einem zauberhaften Märchenbuch zeigt sich die Ruine im Winterschnee. Dann könnte man meinen, als sei die stolze Burg vor Jahrhunderten in der Zeit stehengeblieben. Ein Besuch vor Ort kommt mir wie eine Zeitreise in eine rätselhafte Vergangenheit vor.

Folgen wir der Sage »Die Ährenkönigin«, so wie sie Elise Gleichmann verewigt hat. Der junge Mann vernahm unweit der Burgruine Nordeck »die Töne eines Volkslieder, von Lautenspiel begleitet«. Der Wanderer »lauschte dem herrlichen Gesang«. Das Lied verstummte. Kurz darauf erschien eine wunderschöne junge Frau. Sie schritt auf drei Lilien zu, pflückte die herrlichen Blumen. Weiter ging die Frau. Sie kam an einem Felsen an. Eine der Lilien öffnete den Fels (7) »und ein kristallenes Schloß von ungeahnter Pracht bot sich dem entzückten Beschauer. Zum Öffnen des Schloßtores diente die zweite Lilie, worauf die Schloßherrin mit der dritten die Schloßtüre öffnete und hinter der zufallenden Türe verschwand. Dann war der große Fels wieder geschlossen und unbewegt und alles wie vorher.«

Reichlich spät fiel dem jungen Mann eine Erzählung seines Großvaters ein. Demnach wuchsen jedes Jahr in der Johannisnacht drei Lilien bei der Burgruine Nordeck. Nur ein Sonntagskind konnte die mysteriösen Blumen finden und mit ihrer Hilfe in das geheimnisvolle Schloss hinter der Felswand gelangen. Im Schloss der Ährenkönigin, so erzählt Hans Seiffert weiter, lagen »unermeßliche Schätze«. Wenn die Glocken Mitternacht verkündeten musste man sich sputen und spätestens beim zwölften Glockenschlag wieder im Freien sein, sonst würde man als Gefangener gehalten.

Der junge Mann war freilich kein gewöhnliches Sonntagskind, er war an einem »goldenen Sonntag« (8)  geboren. Ein Jahr später wanderte er wieder zur Burgruine Nordeck hinauf und suchte sein Glück mit der Prinzessin. Ob er es fand? Offenbar. Hans Seiffert erzählt, dass der junge Mann, an inzwischen vertrauter Stelle die drei Lilien vorfand. Mit diesen drei »Schlüsseln« gelangte er durch das geheimnisvolle Felsentor in das Reich der Ährenkönigin, die ihn bereits am Schlosstor erwartete.

Bei Elise Gleichmann endet die Sage so. Wir erfahren, dass der junge Mann nicht in seine alte Welt zurückkehrte (9): »Er blieb verschollen. Nie mehr kehrte er zurück: aber viele Jahrzehnte hindurch hat man die Nordeck in der Johannisnacht gemieden.« 

Drei Lilien dienten als Schlüssel: für den Fels, das Schloss-Tor und eine Schloss-Tür. Die Lilie erlebte als Symbol einen erstaunlichen Wandel (10): »Obwohl sie im Mittelalter ein Symbol des Heidentums war, wurde sie später, ebenfalls aufgrund ihrer unwiderstehlichen Schönheit, als Symbol für Reinheit, Tugend und Fruchtbarkeit, sowie Jungfräulichkeit angenommen. Häufig kann man sie in christlicher Malerei im Zusammenhang mit der Jungfrau Maria entdecken.«

Wurde die weiße Lilie zunächst auf Maria, die »Gottesmutter« übertragen, so machte man sie schließlich zum Symbol des Erlösers Jesus. In den sechs Blütenblättern der weißen Lilie sahen fantasiebegabte Interpreten einen Hinweis auf die Zahl 3, also auf die »Heilige Dreifaltigkeit«. Tatsächlich ist die Lilie tief im Heidentum verwurzelt. Der Legende nach saugte der heroische Held Herkules an den Brüsten der göttlichen Juno alias Hera, die den Olymp beherrschte. Auf diese Weise wollte Herkules unsterblich werden. Der Legende nach fielen einige der Milchtropfen auf den Erdboden. Daraus wurde die Lilie, die deshalb auch »Rose der Juno« und »die göttliche Blume« genannt wurde. Auch im Nahen Osten war die Lilie göttlich. Sie war die heilige Blume der göttlichen Ishtar, der Göttin der Schöpfung. Bei den »Alten Römern« galt die Lilie als eines der Symbole der Göttin Venus. Keine Frage:

Die Lilie war in heidnischen Zeiten die Blume der Göttin, das Christentum machte aus ihr das Symbol der Jungfrau Maria. In so manch christlich-sakraler Darstellung sehen wir den Erzengel Gabriel bei der Verkündung von Jesu Geburt. Während er Maria mitteilt, dass sie ein Kind gebären wird, überreicht er ihr eine Lilie. Aus der Blume der Göttin Venus ist im Mittelalter die Lilie der keuschen, jungfräulichen Maria geworden. Und in der Sage »Die Ährenkönigin« öffnet die Lilie eine Felswand, hinter der sich ein mysteriöses Schloss verbirgt. Mit der Lilie kann man in der Johannisnacht in das Schloss gelangen, das der »Ährenkönigin« gehört. Der Fels, der sich öffnet, erinnert uns an das Mysterium der Pforten, die durch den Stein hindurch in eine andere Welt führen. 

In unserer Zeit kennen wir solche Tore als »Stargates«, als »Sternentore«, durch die man von einer in eine – womöglich unfassbar weit entfernte – Welt gelangt. Im Science-Fiction-Film des deutschen Regisseurs Roland Emmerich aus dem Jahr 1994 »Stargate« reisen eine Gruppe von Militärs und ein Archäologe mit Hilfe eines antiken ägyptischen Tores durch ein Wurmloch auf einen weit entfernten Planeten. Dort greifen sie ein und helfen einen »falschen Gott« zu stürzen. »Stargate«, der Kinofilm, wird in den Fernsehserien »Stargate – Kommando SG-1«, »Stargate Atlantis« und »Stargate Universe« weitergeführt. Die Zeichentrick-Serie »Stargate Infinity« baut ebenfalls auf dem Kinofilm auf.


Foto 3: Burgruine Nordeck im Winter.

In der Legende aus der Kulmbacher Region geht es friedlicher zu. Mit etwas Glück kann ein besonderes männliches Sonntagskind, geboren an einem »goldenen Sonntag«, das zur rechten Zeit am rechten Ort drei Lilien entdeckt und als Schlüssel nutzt, »Die Ährenkönigin« in ihrem kristallenen Schloss hinter einem Felsentor besuchen und heiraten.

Fußnoten 
(1) »Elise Gleichmann«, https://de.wikipedia.org/wiki/Elise_Gleichmann (Stand 06.09.2020) 
(2) »Von Geistern umwittert – Oberfränkische Volkssagen gesammelt und nacherzählt von Elise Gleichmann, gesichtet und gedeutet von Peter Schneider«, Lichtenfels 1927 
(3) »Die Ährenkönigin«, Ebenda, Seiten 191-193 (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!) (4) »Wintersonnenwende - Alban Arthuan (keltisch) - Jul-Fest - Mutternacht – Weihnacht« https://www.jahreskreis.info/files/wintersonnenwende.html (Stand 6.9.2020) 
(5) Woll, Johanna, Merzenich, Margret und Götz, Theo: »Alte Festbräuche im Jahreslauf«, Stuttgart 1991, S. 64–65. 
(6) »Die Ährenkönigin« in »Von Geistern umwittert – Oberfränkische Volkssagen gesammelt und nacherzählt von Elise Gleichmann, gesichtet und gedeutet von Peter Schneider«, Lichtenfels 1927, Seite 191, 11.-9. Zeile von unten (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!) 
(7) Ebenda, Seite 192, 8.-14. Zeile von oben (Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!) 
(8) »Goldener Sonntag«: Der erste Sonntag nach Pfingsten heißt Trinitatis oder Dreifaltigkeitssonntag, auch goldener oder großer Sonntag. Die drei Sonntage nach Michaelis nennt man goldene Sonntage. »Michaelis«: volkstümliche Bezeichnung des Festes des »Heiligen Michael« am 29. September. 
(9) »Die Ährenkönigin« in »Von Geistern umwittert – Oberfränkische Volkssagen gesammelt und nacherzählt von Elise Gleichmann, gesichtet und gedeutet von Peter Schneider«, Lichtenfels 1927, Seite 193, 5.-7. Zeile von oben 
(10) »Die Bedeutung der Lilie – Warum sie steht, wofür sie steht«, »Colvinpedia«, 14. Juni 2019. (Stand 6.9.2020) 

Zu den Fotos 
Foto 1: Die Burgruine Nordeck im Winter (Ausschnitt). Foto wiki commons/ Benreis. Die vorzügliche Aufnahme entstand am 17. Januar 2016 
Foto 2: Burgruine Nordeck Bergfried, aus nördlicher Richtung. Foto wiki commons/Sven-121 
Foto 3(Ausschnitt von Foto 1): Burgruine Nordeck. Foto wiki commons/ Benreis 
 
Meine Empfehlung...
<a href="https://raniverse.com/">Mythen und Myterien</a>

571. »Jung und schön wie eine Königin«, 
Teil 571 der Serie »Monstermauern, Mumien und Mysterien« 
von Walter-Jörg Langbein, erscheint am 27. Dezember 2020 

Labels

Walter-Jörg Langbein (656) Sylvia B. (101) Osterinsel (79) Tuna von Blumenstein (37) Peru (34) Karl May (27) Nan Madol (27) g.c.roth (27) Maria Magdalena (22) Jesus (21) Karl der Große (19) Make Make (19) Externsteine (18) Für Sie gelesen (18) Bibel (17) Rezension (17) der tiger am gelben fluss (17) Autoren und ihre Region (16) Apokalypse (15) Vimanas (15) Atlantis der Südsee (13) Weseke (13) Blauregenmord (12) Der Tote im Zwillbrocker Venn (12) Nasca (12) Palenque (12) meniere desaster (12) Pyramiden (11) Krimi (10) Malta (10) Ägypten (10) Forentroll (9) Mexico (9) National Geographic (9) Straße der Toten (9) Lügde (8) Briefe an Lieschen (7) Der hässliche Zwilling (7) Monstermauern (7) Sphinx (7) Tempel der Inschriften (7) Winnetou (7) Marlies Bugmann (6) Mord (6) Märchen (6) altes Ägypten (6) 2012 - Endzeit und Neuanfang (5) Atahualpa (5) Hexenhausgeflüster (5) Lyrik (5) Mexico City (5) Mord in Genf (5) Satire (5) Thriller (5) Atacama Wüste (4) Cheopspyramide (4) Dan Brown (4) Ephraim Kishon (4) Hexenhausgeflüster- Sylvia B. (4) Leonardo da Vinci (4) Machu Picchu (4) Sacsayhuaman (4) Teutoburger Wald (4) große Pyramide (4) Meniere (3) Mondpyramide (3) Mord im ostfriesischen Hammrich (3) Mysterien (3) Sakrileg (3) Shakespeare (3) Bevor die Sintflut kam (2) Das Sakrileg und die heiligen Frauen (2) Friedhofsgeschichten (2) Goethe (2) Lexikon der biblischen Irrtümer (2) Markus Lanz (2) Münsterland-Krimi (2) Vincent van Gogh (2) Alphabet (1) Bestatten mein Name ist Tod (1) Hexen (1) Lyrichs Briefe an Lieschen (1) Lyrichs Briefe an Lieschen Hexenhausgeflüster (1) Mord Ostfriesland (1) Mord und Totschlag (1) Münsterland (1) einmaleins lernen (1) meniére desaster (1)