Teil 574 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Wenn ich vor die Haustüre trete, sehe ich in einiger Entfernung den »Köterberg«. Hoch oben auf dem einstigen »Götterberg« ragen Beispiele heutiger »technischer Magie« in den Himmel. Für uns Heutige haben Funktürme und Sendeanlagen natürlich nichts mit Zauberei zu tun. Für Menschen, die vor wenigen Jahrhunderten lebten allerdings wäre heutige Technologie unbegreifbarer Zauber, vielleicht gar böses Teufelswerk.
Für uns Heutige wiederum sind Berichte über Felsentore, die mit Magie geöffnet und geschlossen werden können, abergläubischer Unsinn. In die gleiche Kategorie ordnen wohl die meisten Zeitgenossen heute Blumen ein, die Felsentore öffnen. Aber sind mysteriös anmutende Beschreibungen in der Sagenwelt Hirngespinste, Ergebnisse einer uferlosen Fantasie? Oder steckt Wahrheit in den alten Sagen über den »kleinen Grenzverkehr« zwischen den Welten? Foto 1: Hoch oben auf dem
Technische »Magie« heute.
Es gehörte zu den Pflichten meines Großvaters Emil Langbein, im gesamten Dienstbereich in und um Michelau polizeiliche Präsenz zu zeigen. Auf langen Dienstgängen zu benachbarten Dörfern hörte sich Oberkommissar Langbein die kleinen und großen Sorgen der Landbevölkerung an. Wo er helfen konnte, tat er das gern. Die Menschen hatten Vertrauen zu ihm. Gern ließ er sich bei Dorffesten und Kirchweihen von den Älteren Sagen vortragen, die heute wahrscheinlich weitestgehend vergessen sind. Diese alten Überlieferungen interessierten mich sehr und so ließ ich mir einige mündlich tradierte Geschichten von meinem Großvater diktieren. Emsig notierte ich, was mein Großvater vorgetragen hat. Ein Beispiel: Beim Dörfchen Thelitz, südöstlich von Lichtenfels in einem Hügelland südlich des Mains gelegen erzählte ihm eine greise Bauersfrau eine Sage von der »Springwurz« (1):
»Ein Bauer ärgerte sich über das laute und ausdauernde Hämmern eines Spechts unweit seiner Schlafkammer. Manchmal klopfte der Specht auch an Balken des einfachen Häuschens. Schließlich wurde es dem Bauern zu bunt. Er legte sich auf die Lauer und fand so heraus, in welchem Baumstamm der Specht seine Nisthöhle angelegt hatte. Als der Specht wieder einmal weggeflogen war, schleppte der Bauer eine hohe Leiter an den knorrigen Baum und kletterte mit Nägeln, Hammer und einem Brett bewaffnet empor. Er nagelte mit wuchtigen Schlägen das Brett vor den Eingang zur Behausung des Spechts. Zufrieden und nicht ohne Schadenfreude wartete der Bauer die Rückkehr des Spechts ab. Dieser freilich wusste sich zu helfen. Der Specht entfernte sich wieder und kehrte bald darauf mit einer Springwurzel zurück. Mit der Springwurzel im Schnabel flog der Specht seine Behausung an und wie von Zauberhand bewegt schnellte das vorgenagelte Brett in weitem Bogen zu Boden. ›Da ist Zauberei im Spiel!‹, dachte der Bauer nicht ohne Angst. Von nun an ließ er den Specht gewähren. Auf dem Sterbebett hörte der Bauer, dass er dem Specht die Springwurz hätte abluchsen können. Mit der magischen Pflanze hätte er Tore in eine andere Welt öffnen und unvorstellbare Schätze bergen können. Dazu aber war es zu spät.«
Tatsächlich gilt in der Sagenwelt die »Springwurz« als magische Pflanze, die nur der Specht zu finden vermag. Die »Springwurz« kann, so heißt es, Verschlossenes wie ein Zauberschlüssel öffnen. Die Springwurz gilt seit Ewigkeiten als Zauberpflanze. Sie wurde schon von Eingeweihten im »Alten Indien« beschrieben, aber auch von Plinius im römischen Schrifttum und in hebräischen Werken über magische Wirkung von Pflanzen. König Salomo soll die Magie der Springwurz genutzt haben. Auf meinen Reisen habe ich immer wieder von der »Springwurz« gehört. Uneinigkeit herrschte dabei, ob es sich dabei um eine reale, existierende Pflanze handelt und wenn ja, um welche.
Ist es »Salomons Siegel« aus der Familie der Spargelgewächse? Oder handelt es sich um eine Pfingstrosenart … oder um Johanniskraut? Ludwig Bechstein (*1801; †1860), ein deutscher Schriftsteller, Bibliothekar, Archivar und Apotheker, sammelte mit Begeisterung alte deutsche Sagen und Märchen. 1842 veröffentlichte er das Buch »Sagenschatz des Frankenlandes«. Seine wahrscheinlich wichtigste Publikation erschien erstmals 1845 in zwei Bänden: »Deutsches Märchenbuch«. War mir die »Springwurz« erstmals in der Sagenwelt meiner oberfränkischen Heimat begegnet, so verfolgte sie mich förmlich bis ins Weserbergland, wo ich seit vielen Jahren zuhause bin. Ludwig Bechstein hat die aufschlussreiche Sage vom Springwurz und dem Köterberg festgehalten (2):
»Der Köterberg an der Landscheide des paderbornschen, corveyschen und lippeschen Gebietes mag wohl ehedem Götterberg geheißen haben. Viel erzählt von ihm die Sage; daß er innen voll Schätze sei, daß an seinem südlichen bewaldeten Fuße eine Harzburg gestanden habe, deren Reste noch zu sehen, und bei Zierenburg, zwei Stunden von ihr, eine Hünenburg. Öfters haben die Hünen, die auf diesen Burgen wohnten, mit Hämmern herüber- und hinübergeworfen. Einem Schäfer, der auf dem Köterberge seine Herde hütete, erschien eine reizende Jungfrau in königlicher Tracht, die trug in ihrer Hand die Springwurz, bot sie dem Schäfer dar und sagte: Folge mir! Da folgte ihr der Schäfer, und sie führte ihn durch eine Höhle in den Köterberg hinein, bis am Ende eines tiefen Ganges eine eiserne Türe das Weitergehen hemmte. ›Halte die Springwurz an das Schloß!‹ gebot die Jungfrau, und wie der Schäfer gehorchte, sprang die Pforte krachend auf.
Nun wandelten sie weiter, tief, tief in den Bergesschoß hinein, wohl bis in des Berges Mitte. Da saßen an einem Tische zwei Jungfrauen und spannen, und unterm Tische lag der Teufel, aber angekettet. Ringsum standen in Körben Gold und Edelsteine. Nimm dir, aber vergiß das Beste nicht! sprach die Jungfrau zum Schäfer; da legte dieser die Springwurz auf den Tisch, füllte sich die Taschen und ging. Die Springwurz aber ließ er auf dem Tische liegen. Wie er durch das Tor trat, schlug die Türe mit Schallen hinter ihm zu und schlug ihn hart an die Ferse. Mit Mühe entkroch der Schäfer der Höhle und freute sich am Tageslichte des gewonnenen Schatzes. Als er diesen überzählte, gedachte er sich den Weg wohl zu merken, um nach Gelegenheit noch mehr zu holen, allein wie er sich umsah, konnte er nirgend den Ein- oder Ausgang entdecken, durch den er gekommen war. Er hatte das Beste, nämlich das beste Stück zur Wiederkehr, die Springwurz, vergessen.«
Bei der Burgruine Nordeck war es eine »Ährenkönigin«, die aus der anderen Welt in unsere Welt trat. Der »Schäfer vom Köterberg« hatte eine mysteriöse Begegnung mit einer »reizenden Jungfrau in königlicher Tracht«. Beide benützten Blumen zum öffnen des Felsentores in die andere Welt: die »Ährenkönigin« drei Lilien, die »Jungfrau in königlicher Tracht« die Springwurz. In einer anderen Sage, von der ich einige leicht voneinander abweichende Variationen hörte, öffnen Schlüsselblumen den Felseingang. Ein ähnliches Geheimnis hat Wallersberg, 453 m über dem Meeresspiegel auf einer Hochebene am östlichen Rand des malerischen Kleinziegenfelder Tals, gelegen. Hier sind es Kornblumen, die es einem Knaben ermöglichen, in eine fremde Welt hinter einem Felsentor zu gelangen. Nicht zu vergessen: Auch in den oberfränkischen Staffelberg kann man durch ein mysteriöses Tor gelangen, das sich alle 100 Jahre auftut.
Andreas Motschmann, profunder Kenner nicht nur der Sagenwelt des Frankenlandes, fasst in seinem Traktat über »Brauchtum in Deutschland« zusammen (3):
»Viele der alten Volkssagen sind sogenannte Erlösungssagen. Die Gemeinsamkeit dieser Sagenart liegt darin, dass sich beispielsweise am Johannistag – nur einmal im Jahr also – der Berg, beziehungsweise der Felsen öffnet und der Eintritt in die ›Anderswelt‹ gelingt. Dabei können nur an diesem Tage die dorthin Verbannten und so Eingeschlossenen von ihrem Schicksal erlöst werden. Der Zutritt gelingt oft nur mit einem symbolischen Schlüssel. Dieser ist meist eine ›Wunderblume‹, zum Beispiel eine Schlüsselblume, Springwurzel oder blühendes Farnkraut. Als Belohnung winken große Schätze. Geblendet vom plötzlichen Reichtum vergessen die Eindringlinge, trotz der Warnung: ›Vergiss das Beste nicht‹, das Wichtigste, eben den ›Schlüssel‹ wieder mitzunehmen, und damit ist die Chance vertan, die Verbannten zu erlösen.« Es gibt einen wahren Schatz an Sagen, die sich aber alle auf eine einzige Aussage kondensieren lassen:
Es gibt neben unserer Welt eine andere, eine Parallelwelt. Schon die Philosophen der Antike dachten darüber nach, ob es eine oder mehrere Parallelwelten gibt. Was viele Zeitgenossen heute noch als Science-Fiction abtun, das wird von Quantenphysikern ernsthaft erörtert. Werner Heisenberg (*1901; †1976), einer der bedeutendsten Physiker überhaupt, erhielt 1932 Nobelpreis für die Begründung der Quantenmechanik. So verwundert es nicht, dass sich Heisenberg ausgiebig mit der Quantenphysik beschäftigte. Seine Umschreibung des Begriffs Quantenphysik lässt mich an die mysteriösen Hinweise in der Welt der Sagen über »Anderswelten« oder »Parallelwelten« denken (4):
»Die Quantentheorie ist so ein wunderbares Beispiel dafür, daß man einen Sachverhalt in völliger Klarheit verstanden haben kann und gleichzeitig doch weiß, daß man nur in Bildern und Gleichnissen von ihm reden kann.« Die geheimnisvollen Sagen, in denen Menschen von der einen Welt durch ein Felsentor in eine andere Welt und wieder retour gelangen können, sind das Bilder und Gleichnisse? Ist die Basis dieser märchenhaft anmutenden Sagen ein uraltes, längst in Vergessenheit geratenes Wissen von der Existenz von Parallelwelten?
Der geniale Wissenschaftler Werner Heisenberg war davon überzeugt, dass es nur dann eine Weiterentwicklung zum Beispiel in der Physik geben kann, wenn altvertraute Wege verlassen werden (5): »Wirkliches Neuland in einer Wissenschaft kann wohl nur gewonnen werden, wenn man an einer entscheidenden Stelle bereit ist, den Grund zu verlassen, auf dem die bisherige Wissenschaft ruht, und gewissermaßen ins Leere zu springen. … Wenn wirkliches Neuland betreten wird, kann es aber vorkommen, daß nicht nur neue Inhalte aufzunehmen sind, sondern daß sich die Struktur des Denkens ändern muß, wenn man das Neue verstehen will. Dazu sind offenbar viele nicht bereit oder nicht in der Lage.«
Fußnoten
(1) Nach meinen handschriftlichen Notizen vom Frühjahr 1979 wiedergegeben.
(2) Bechstein, Ludwig: »Deutsches Sagenbuch«, Meersburg und Leipzig 1930, S. 205-206. (Die Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(3) Motschmann, Andreas: »Brauchtum in Deutschland/ Sommersonnenwende in Deutschland/ Brauchtum, Wetterregeln und Volksagen um den Johannistag«. http://www.cca-bolivia.com/wp-content/uploads/2014/06/Sommersonnenwende-in-Deutschland.pdf (Stand 18.9.2020)
(4 ) Heisenberg, Werner: »Physik und Philosophie«, 7. Auflage, Stuttgart 2006, S. 17 (Die Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(5) Werner Heisenberg: »Der Teil und das Ganze«, Kapitel 6, »Aufbruch in das Neue Land«, 9. Auflage, München, Februar 2012, Seite 88. (Die Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
Zu den Fotos
Foto 1: Hoch oben auf dem »Köterberg«... Technische »Magie« heute. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 2: Auch der Staffelberg hat Geheimnisse. Foto Ansichtskarte (vor 1926). Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
575. »Per Anhalter zu anderen Welten?«,
Teil 575 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 24. Januar 2021
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