Sonntag, 9. Dezember 2018

464 »Drachen, Jungfrauen und ein himmlischer Fluss«

Foto 1: Drachentöter von Marienmünster.
Teil 464 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein

Meine Urgroßmutter Hedwig Welsch, sie verstarb am 9.12.1971 im Alter von 90 Jahren, las mir als ich noch ein kleines Kind war, Märchen und gruselige Geschichten von Drachen vor. Edle Helden kämpften todesmutig gegen feuerspeiende Drachen, töteten sie und befreiten holde Jungfrauen aus ihren Klauen. Das Volk jubelte dann lautstark, wo die siegreichen Kämpfer auftauchten. Und natürlich bekam jeder Drachentöter die befreite Jungfrau, die sonst das Monster gefressen hätte, zur Frau. Manche bekamen dann noch zusätzlich vom königlichen Schwiegervater das halbe Königreich dazu.

Als ich in Erlangen Theologie studierte, erzählte mir ein arabischer Kommilitone ein Märchen. Ein König hatte drei Söhne, die in die Welt reisten, um sich zu bewähren. Einer der drei Männer gelangte in eine Stadt. Jeden Tag musste ein unschuldiges Mädchen einem siebenköpfigen Drachen ausgeliefert werden, damit die Bestie die Stadt verschonte. Das Untier hauste auf einem Berg nah bei einer Kapelle. Nun sollte des Königs Töchterlein dem Drachen ausgeliefert werden. Der wandernde Königssohn freilich wusste das zu verhindern, tötete den Drachen. Als Lohn bekam der Prinz die Tochter des Königs und wurde, als der König starb, selbst König.

In der Schweiz hörte ich von einem Märchen, das angeblich eine wahre Begebenheit aus dem Jahr 1420 schildert. Zwei riesige Drachen, so überliefert es das Märchen, hausten in unterirdischen Höhlen, in die man über einen Brunnenschacht gelangte. Die Drachen verbrachten dort den Winter, dann flogen sie wieder in die Welt hinaus.

In der Krypta der Kathedrale von Metz, Frankreich, ist eine Statuette eines Drachens zu sehen. Das Tier hat einen Namen: »Graoully«. Die Kreatur soll einst in einem römischen Amphitheater gehaust haben. Der Name »Graoully«, ursprünglich »Grauli«, soll auf das deutsche Wort »gräulich« zurückgehen. Braungräulich, so wird überliefert, waren die Schuppen des Monsters. Sie waren härter als jedes Schwert, heißt es, und so konnte der Drachen »Graoully« lange Zeit nicht besiegt werden. Erst im dritten Jahrhundert gelang es, so wird heute noch erzählt, dem Heiligen Clemens von Metz die Stadt vom Drachen zu befreien. Es gelang dem Kirchenmann, dem Untier eine Stola umzubinden und auf eine Insel im Fluss Seille zu bringen. Da tat sich die Erde auf, verschluckte den Drachen »Graoully«. Der Heilige Clemens wälzte auf das Loch einen mächtigen Felsbrocken, so dass der Drachen bis zum heutigen Tage nicht mehr ans Tageslicht zurückkehren konnte.

Foto 2: Drache Graoully von Horace Castelli

Noch im 19. Jahrhundert erinnerten sich die Bürger von Metz an den Bischof, der den Drachen besiegte. Zu Ehren des Kirchenmannes wurde Jahr für Jahr eine Prozession durchgeführt, bei der Nachbildungen von »Graoully« durch die Straßen getragen wurden. Horace Castelli (*1825;†1889) war wohl Augenzeuge einer solcher »Drachenprozession«. Bei ausgelassener Jahrmarkstimmung wurde eine Drachenfigur mit Flügeln von beachtlicher Größe durch die Straßen geschleppt, begleitet von Trommlern und Verkäufern von Lebensmitteln. Das Schauspiel lockte natürlich auch viele Neugierige an.

Ein behelmter Soldat reitet in der detailreichen Darstellung von Horace Castelli das Untier, das sein furchteinflößendes Maul aufreißt. Ein umsichtiger Mann besänftigt den Drachen, indem er ihm Backwaren in den Rachen kippt. Das Bild vom Drachen mit mächtigen Flügeln ist sehr alt. Es war schon in biblischen Zeiten bekannt. Was wenige wissen: Die biblische Schlange, die Eva zum Ungehorsam verleitet und das göttliche Verbot missachten lässt, war womöglich ein Drachen mit Flügeln. Nach dem biblischen Schöpfungsbericht verfügte die Schlange vom Paradies ursprünglich über Beine, heißt es doch ausdrücklich im Buch Genesis, zitiert nach der Lutherbibel von 2017 (1):

»Da sprach Gott der HERR zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht vor allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Staub fressen dein Leben lang.« Nur wenn die Schlange ursprünglich Beine hatte und »Gott der HERR« ihr die Beine nahm, macht dieser Vers Sinn. Denn ohne Beine hätte sie auch vor der Strafaktion auf dem Bauch kriechen müssen.


Foto 3: Ein geflügelter Drache

Sehr viel ausführlicher ist die apokryphe Schrift »Apokalypse des Moses« (2): »Nachdem er mir dieses gesagt, sprach er in großem Zorn zur Schlange: Weil du dieses tatest als unerfreulich Werkzeug, indem du Arglose betörtest, so sei verflucht vor allem Vieh! Der Speise, die du aßest, sei beraubt! Friss Staub dein Leben lang! Kriech auf der Brust und auf dem Bauch, beraubt der Hände und Füße! Nicht Ohr, noch Flügel bleibe dir, nicht irgend eines deiner Glieder! In deiner Bosheit hast du sie damit berückt und es dahin gebracht, daß sie das Paradies verlassen müssen.«

Paul Rießler hat die »Apokalypse des Moses« in sein Standardwerk »Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel« (3) aufgenommen. Auch hier wird die Verwandlung der Schlange als Strafe Gottes beschrieben. Paul Rießler übersetzt (4): »Nicht Ohr, noch Flügel bleibe dir, nicht irgend eines deiner Glieder.«

Die Schlange hatte also nach der »Apokalypse des Moses« vor der Bestrafung durch Gott noch Hände, Füße und Flügel oder vier Beine und Flügel, danach nicht mehr. Hände, Füße und Flügel wurden ihr von Gott genommen. Mit anderen Worten: Vorher war die Schlange ein drachenartiges Wesen.

Wenn wir an die Gebrüder Jacob (*1785; †1863) und Wilhelm Grimm (*1786; †1859) denken, so fallen uns ihre »Kinder- und Hausmärchen« ein, die beide weltberühmt machten. Die Märchen erschienen von 1812 bis 1858. Die beiden Grimms waren aber auch, und das ist weniger bekannt, Sprachwissenschaftler und Volkskundler. Jacob Grimm, der als Begründer der deutschen Philologie und Altertumswissenschaft gilt, veröffentlichte anno 1835 einen wahren Meilenstein der Mythenforschung (5). Das Werk »Deutsche Mythologie« wurde 2007 erneut und komplett publiziert (6).

Foto 4: Darstellung eines Drachen, Künstler Lucas Jennis, frühes 17. Jahrhundert.

Jacob Grimm geht in seinem Werk über deutsche Mythologie (7) auch auf das Thema Drachen ausführlich ein. Er schreibt (8): »Die schlange kriecht oder ringelt sich auf dem boden, stehn ihr flügel zu gebot, so heißt sie drache, was ein undeutsches aus dem lat(einischen) draco, gr(iechischen) Δράκος (Drákos) stammendes, schon früh eingeführtes wort ist.« (Jacob Grimm bezeichnet Drachen als »undeutsches Wort«, damit meint er aus einer fremden Sprache entlehntes Fremdwort.)

Mit anderen Worten: Jacob Grimm entdeckte bei seinem Studium deutscher Mythologie einen direkten Zusammenhang zwischen Schlange und Drachen, der ja bereits im Schöpfungsbericht des Alten Testaments und ausführlicher in den Apokryphen des Alten Testaments beschrieben wurde. Leider findet sich im umfangreichen grimmschen Werk kein Hinweis auf die Drachen in der Krypta der Abdinghofkirche. Auf der Homepage »paderborn.de« (9) findet sich ein interessanter Hinweis (10):»Diese mythischen Drachen waren seit der Antike bis ins hohe Mittelalter Sinnbild für Naturkräfte, die hier vermutlich die Wasserquellen der Pader schützen sollten. Diese Schlangendrachen sind hier eine kunstgeschichtliche Kostbarkeit.«

Foto 5: Schlangendrachen, 17. Jahrhundert

Branko Čanak hat sich wie kaum ein anderer Zeitgenosse intensiv mit den geheimnisvollen Wesen in der Krypta der Abdinghofkirche beschäftigt. Er bezeichnet sie als (11) »Wasserdrachen, Hüter der Paderquellen und älteste Bewohner der Gegend«. Auch der lwl., der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, geht auf die geheimnisvollen Tiere in der Krypta ein (12) »Die Drachen sind, obgleich man sie als vermutete Hüter der Paderquellen an verschiedensten Orten der Stadt immer wieder findet, ein oft übersehenes Symboltier.« In der Tat: Es wird die Vermutung angestellt, dass die acht Drachen an dem Säulenkapitell die unterirdischen Paderquellen schützen sollen. Auch die Bezeichnung »Wasserdrachen« ist spekulativ, lässt sich nicht mit alten Dokumenten aus der Entstehungszeit der Krypta belegen. Wasserdrachen sind in China bekannt, werden in uralten Mythen beschrieben.

Foto 6: Chinesische Wasserdrachen.

Die chinesische Mythologie kennt den Wasserdrachen nicht als Behüter von Quellen oder Flüssen, sie repräsentieren vielmehr die Gottheiten von Gewässern. Kurios: Auch im alten Indien repräsentieren Götter Flüsse. So wird die Flussgöttin Ganga mit dem gewaltigen Fluss Ganges gleichgesetzt. In Reliefs wie jenem von Mahalipuram (12m hoch, 33 m breit!) sieht man Ganga als schlangenartiges Wesen im himmlischen Fluss, zusammen mit ihrem ebenso schlangenartigen Partner, zur Erde kommen. Ganga schwimmt nicht im Fluss, sie ist der personifizierte Fluss. Die chinesischen Wasserdrachen haben wie die acht Drachen in der Krypta der Abdinghofkirche Bärte. Wohl ein Zufall…

Meine Urgroßmutter Hedwig Welsch, sie verstarb am 9.12.1971 im Alter von 90 Jahren, las mir als ich noch ein kleines Kind war, Märchen und gruselige Geschichten von Drachen vor. Bis heute beschäftigen mich die Drachen. Sind es reine Fantasiewesen, die es nie gegeben hat? Oder schlummern in unseren Genen Erinnerungen an geheimnisvolle, furchteinflößende Kreaturen, die vor langer Zeit ausgestorben sind? Waren Drachen gut oder böse, göttlich oder teuflisch?

Foto 7: Mysteriöses Steinrelief mit Göttin Ganga


Fußnoten
(1) 1. Buch Mose Kapitel 3, Vers 14
(2) »Apokalypse des Moses« Vers 26, zitiert nach Weidinger, Erich: »Die Apokryphen/ Verborgene Bücher der Bibel«, Augsburg 1999, Seite 43
(Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(3) Rießler, Paul: »Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel übersetzt und erläutert von Paul Rießler«, Augsburg 1928, Seiten 138-155: »Apokalypse des Moses/ Adam und Eva«
(Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(4) ebenda, Kapitel 26, Seite 148 Mitte
(Rechtschreibung wurde unverändert übernommen!)
(5) Grimm, Jacob: »Deutsche Mythologie«, Göttingen 1835
(6) Grimm, Jacob: »Deutsche Mythologie«, Wiesbaden 2007
(7) Grimm, Jacob: »Deutsche Mythologie«, Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz 1968, dreibändige Faksimile-Ausgabe der 4. Auflage, Berlin 1875-78
(8) ebenda, Band II, S. 573, Zeilen 15-18 von oben
(Rechtschreibung wie durchgehende Kleinschreibung wurde unverändert übernommen!)
(9) https://www.paderborn.de/index.php (Stand 10.10.2018)
(10) https://www.paderborn.de/tourismus-kultur/sehenswuerdigkeiten/Abdinghofkirche_Sehensw.php (Stand 10.10.2018)
(11) http://wasserdrachen-podcast.de/ (Stand 10.10.2018)
(12) https://www.lwl.org/pressemitteilungen/mitteilung.php?urlID=31724 (Stand 10.10.2018)

Foto 8
Zu den Fotos
Foto 1: Der Drachentöter von Marienmünster. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 2: Drache Graoully von Horace Castelli, 1872. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 3: Ein geflügelter Drache, Darstellung etwa 1565.  Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 4: Darstellung eines Drachen, Künstler Lucas Jennis, frühes 17. Jahrhundert. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 5: Schlangendrachen, 17. Jahrhundert, Künstler eventuell Athanasius Kircher, ca. 1666. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 6: Chinesische Wasserdrachen. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Mysteriöses Steinrelief mit Göttin Ganga. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 8: Götting Ganga kommt vom Himmel herab. Foto Walter-Jörg Langbein

465 »Monster im Meer?«,
Teil 465 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 16.12.2018



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