Sonntag, 21. August 2016

344 »Legende aus Stein«

Teil 344 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein

Fotos 1-3: Der »Küstentempel«

Matthias Claudius (1740-1815) schrieb Ende des 18. Jahrhunderts das Gedicht »Urians Reise um die Welt«. Erschienen ist es 1786 und wurde unter anderem auch von Ludwig van Beethoven vertont. Das Gedicht kann wohl nur als Satire auf die Reise- und Entdeckungslust der frühen Neuzeit oder als Parodie der Reiseliteratur verstanden werden. Gleich zu Beginn heiß es: »Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzählen. D'rum nahm ich meinen Stock und Hut und tät das Reisen wählen.«  Um 1800 wurde »verzählen« im Sinne von »falsches zählen« verwendet. Daraus wurde die bis heute geläufige Redewendung, ausschließlich positiv gemeint: »Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen«, im Sinne von »Dann hat er was zu berichten.«

So ist es auch. Vor allem, wer reist, der kann sich auch etwas erzählen lassen. Nach wie vor sind mündliche Überlieferungen wichtige Quellen. In Indien wie in der Südsee hörte ich immer wieder von Flutkatastrophen und Überschwemmungen. Solange die mysteriöse Schrift der Osterinsel nicht entziffert wird, sind über auf den reichen Schatz an Überlieferungen angewiesen, der heute – noch und wieder – von den Osterinsulanern gehütet wird.

Foto 4: Historische Aufnahme des »Küstentempels«

Vor Ort erfuhr ich von alten Überlieferungen über die Urheimat der Osterinsulaner, die im Westen des Eilands gelegen haben soll. Die ursprüngliche Heimat sei im Meer versunken. Dank des fliegenden Gottes Make-Make konnten sich die Menschen auf die Osterinsel retten. Wo genau wie viel Land im Meer des Pazifiks versank, wir wissen es nicht. War es der legendäre Kontinent Mu? War es eine Inselgruppe oder nur eine einzelne, kleinere Insel?

Aus diversen Gesprächen mit Osterinsulanern weiß ich: Die lebendige mündliche Tradition weist auf Polynesien als Ursprungsgebiet der Osterinsulaner hin (1). Auch im Raum Mahabalipuram gibt es noch mündliche Tradition, die von Flutkatastrophen zu berichten weiß. Demnach ist der heutige »Küstentempel« der letzte von insgesamt sieben sakralen Bauten. Sechs seien vom Meer verschlungen worden.

Vor Ort erzählte man mir, dass der Meeresspiegel bis in unsere Tage ansteige. Fakt ist, und ich habe das selbst erlebt, dass bei Flut der »Küstentempel« im Wasser steht. Wellen dringen ins Innere des sakralen Gebäudes ein, wodurch erhebliche Schäden angerichtet werden. Mauerwerk und Skulpturen leiden erheblich darunter. Trotz beschränkter finanzieller Mittel wird versucht zu retten, was zu retten ist und zu konservieren, was noch erhalten ist.

Foto 5: Historische Aufnahme des »Küstentenpels«

Fakt ist, dass anno 1810 Robert Southey in seinem epischen Gedicht »The Curse of Kehema« (etwa »Der Fluch von Kehema«) von versunkenen Tempeln spricht (2), von Türmen, Kuppeln, Zinnen und Tempeldächern. Da heißt es (3): »Welch wundersame Werke hat die schlingende Welle dort gefressen, wo einst wack’re Monumente Bericht erstatteten über ihre einstige Herrlichkeit. Und an der sandigen Küste, am Rand des Ozeans, widerstand ein steinerner Tempel in seiner Stärke Brandung und Woge, die vergeblich gegen ihre tiefen Fundamente schlagen.«

N.S. Ramaswami spricht allerdings der Beschreibung der versunkenen Tempel jede Wirklichkeit ab (4): »Das ist ein schönes Bild, aber durch und durch unwirklich. Es gibt keine versunkene Stadt unter den Wellen von Mahabalipuram. Der europäische Name ›Sieben Pagoden‹ ist irrational und kann nicht begründet werden.«

Foto 6: Weitere historische Aufnahme des »Küstentempels«

S. Swaminathan vermeldet in seinem üppig bebilderten Buch »Mahabalipuram/ Unfinished Poetry in Stone« (etwa »Mahabalipuram/ Unvollendete Poesie in Stein«) (5): »Es gibt einen Glauben, dass ein Teil der Stadt vom Meer verschlungen wurde. Es hat Versuche gegeben, den Grund des Ozeans auf Reste von Bauwerken zu untersuchen. Nach lokaler Tradition gibt es eine Reihe von Tempeln, die vom Meer verschluckt wurden. Viele haben über Jahrhunderte hinweg behauptet, Tempeltürme im Meer gesehen zu haben.«

Bei meinem Besuch in Mahabalipuram im November 1995 hörte ich wiederholt von Fischern, die bei Nacht und wolkenfreiem Himmel, wenn der Vollmond am Himmel stand, eindeutig die Kuppeln von steinernen Tempeln gesehen haben wollen. Besonders gut habe man die sakralen Bauwerke bei niedrigem Wasserstand und geringer Wellenbewegung gesehen. Dann schimmerten die Turmspitzen einige Meter unter der Wasseroberfläche. Manche Fischer hatten Angst vor den Bauten auf dem Meeresgrund. Sie fürchteten sich vor Geistern, die in den Gemäuern hausen könnten.

Berichtet wurde mir, dass es einst eine Treppe gegeben habe, die vom heute noch erhaltenen Küstentempel nach unten führten, unter die Wasseroberfläche. Weiter unten habe man schließlich so etwas wie Verankerungen gesehen, auf denen einst eine Plattform gelegen habe. Die Stufen der steinernen Treppe seien aber inzwischen stark erodiert, zum Teil schon gar nicht mehr zu erkennen.

Kritische Stimmen waren auch zu vernehmen: So sei es ja erfreulich, dass der letzte der sieben Tempel heute durch Steinaufschüttungen vor den Mächten des Meeres weitestgehend geschützt sei. Aber dadurch seien eindeutig künstlich geschaffene Strukturen auf dem Meeresgrund für immer verschwunden. Weihnachten 2004 suchte ein Tsunami auch Mahabalipuram heim. Die Flutwelle selbst richtete keinen größeren Schaden an. Für Minuten zog sich das Meer rund 500 Kilometer zurück. Für Minuten lag trocken, was sonst Meeresboden war. Für Minuten wurden Steinformationen sichtbar, einige der Versunkenen Tempel?

Das Meer kehrte zurück, die Strukturen verschwanden wieder unter dem Meeresspiegel. Der Tsunami aber spülte im heutigen Strandbereich Felsen frei, die seit Ewigkeiten unter dem Sand verborgen lagen. Besonders interessant: Entdeckt wurde ein Felsbrocken, der eindeutig bearbeitet worden war. Begabte Steinmetze wollten ihn in die Statue eines Elefanten verwandeln, brachen aber ihr Werk – warum auch immer – ab, es blieb unvollendet.

Foto 7: Mysteriöse Statue eines »Löwen«
Eine zweite Statue wurde weitestgehend fertig gestellt. Was stellt sie dar? Da ist das Gesicht eines Tieres zu erkennen. Der Rachen ist geöffnet, man erkennt spitze Reißzähne. Deutlich herausgearbeitet sind die aufgerissenen Augen des Tieres. Soll es ein Löwe sein, der seine Beute fixiert und gleich zum Sprung ansetzen wird? Und dem Kopf machen wir zwei mächtige Pranken aus, die durchaus zu einem Löwen passen würden.

Direkt unter dem Löwen hat man eine Nische in den Fels gemeißelt. Wurden hier einst Opfergaben abgelegt? Vage auszumachen ist eine Gottheit an der Rückseite der Nische. Die Skulptur macht insgesamt einen sehr alten Eindruck, weitere Details sind so verwaschen, dass sie nicht mehr zu erkennen sind. Eine ganz ähnliche, nicht minder mysteriöse Statue sah ich anno 1995 direkt beim »Küstentempel«.

Am 30. Mai 2005 vermeldete »India Today«: »Die Entdeckung von zwei neuen Tempeln bei Mahabalipuram bringt eine Wende in Sachen Folklore über vom Meer verschlungene Tempel. Lange Zeit glaubten Forscher, dass der Küstentempel von Mahabalipuram in seiner dem Meere zugewandten Großartigkeit über ein Jahrtausend allein stand, dabei der hämmernden Brandung widerstehend. War er aber immer allein? Örtliche Legenden kreisen um einen Komplex von einstmals sieben Tempeln, die dort gestanden haben sollen, und zwar so spektakulär, dass sie die Eifersucht der Götter auslösten, die das Meer gegen sie entfesselten.«

Foto 8: »Küstentempel« mit »Löwenskulptur«

Laut »India Today« wurden Taucher fündig. Besonders sensationell: Die Ruinen eines Tempels aus Granit, eineinhalb mal so groß wie der verbleibende Küstentempel. Und noch weiter entfernt von der Küste stand die Ruine eines »kleineren Küstentempels«, auch auf dem Meeresgrund.

Wie alt mögen diese Tempel sein? Megalithische Gräber im Raum Mahabalipuram werden auf das zweite vorchristliche Jahrtausend datiert. Ob es aus jener frühen Zeit auch Tempel auf dem Meeresgrund geben mag? Eine wissenschaftliche Studie des »1. National Institute of Oceonography Regional Centre Vishakhapatanam« lässt keinen Zweifel mehr zu: Es gibt vor der Küste von Mahahablipuram auf dem Meeresgrund eine ganze Reihe von künstlich angelegten Strukturen. Es muss – so die Studie – einen großen Gebäudekomplex gegeben haben, der  sich heute unter Wasser befindet.

Ein Beispiel: eine L-förmige Mauer aus kleinen Steinquadern in sieben Meter Wassertiefe. Teile der Mauer lagen so tief unter Sedimenten, dass eine genauere Untersuchung nicht möglich war.

Fakt ist: Taucher haben Beweise für die Existenz der sechs vom Meer verschlungenen Tempel gefunden. Was gern als Legende abgetan wurde, hat sich als Realität erwiesen. Gefunden wurde eine »Legende aus Stein«.

Fußnoten
(1) Siehe auch Horn, Roland: »Atlantis/ Alter Mythos – Neue Beweise«, Grafing 2009. Das empfehlenswerte Buch liegt auch als eBook vor. (Foto 9)
(2) Ramaswami, N.S.: »Temples of South India«, Madras 1984, S. 205 (Das Werk wurde mehrfach nachgedruckt, zuletzt 1996.)
(3) ebenda, S. 205 und 206, Übersetzung aus dem Englischen durch den Verfasser
(4) ebenda, S. 206
(5) Swaminathan, S.: »Mahabalipuram/ Unfinished Poetry in Stone«, Chemnai, Indien, o.J., S. 157. Übersetzung aus dem Englischen durch den Verfasser.
(6) »Submerged Pagodas of Mahabalipuram - Study Based on Underwater Investigations«, nähere Angaben liegen mir nicht vor.

Zu den Fotos
Fotos 1-3: In meinem Archiv befinden sich diverse alte Fotos, die den »Küstentempel« von Mahabalipuram zeigen. Sie stammen meiner Information nach aus der Zeit um 1910. Nähere Angaben zu diesen Aufnahmen liegen mir leider nicht vor, so dass ich keine näheren Informationen über Fotografen etc. geben kann. Copyright dürfte nicht verletzt werden, im Hinblick auf das Alter der Aufnahmen. Das Foto in Farbe habe ich selbst aufgenommen.
Fotos 4-6: Historische Aufnahmen, um 1910, siehe Anmerkungen zu Fotos 1-3
Foto 7: Mysteriöse Statue eines »Löwen«, Public Domain.
Foto 8: »Küstentempel« mit »Löwenskulptur«. Foto Walter-Jörg Langbein/ wiki
Foto 9: Cover »Atlantos« von Roland M. Horn 

345 »Sprechende Steine«,
Teil 345 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 28.08.2016

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