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Sonntag, 27. Mai 2018

436 „Zwei Krypten und das Monster am Fluss“

Teil  436 der Serie
„Monstermauern, Mumien und Mysterien“                         
von Walter-Jörg Langbein



Foto 1: Der Dom zu Bremen. Ansichtskarte von  1899

Der St.-Petri-Dom zu Bremen hat eine lange, sehr lange Geschichte. Das höchst imposante sakrale Bauwerk von heute ist nicht mehr das „Original“. „Wikipedia“ berichtet unter dem Stichwort „Bremer Dom“: „Der St.-Petri-Dom in Bremen ist ein aus Sandstein und Backstein gestalteter romanischer Kirchenbau, der vom 11. Jahrhundert an über den Fundamenten älterer Vorgängerbauten errichtet und seit dem 13. Jahrhundert im Stil der Gotik umgebaut wurde. Im 14. Jahrhundert gab es Erweiterungen um seitliche Kapellen. 1502 begann die Umgestaltung in eine spätgotische Hallenkirche, die aber über ein neues Nordseitenschiff nicht hinauskam, als die Reformation weitere Ausbauten stoppte.

Im späten 19. Jahrhundert erfolgte eine umfangreiche Renovierung des innen durchaus gepflegten, äußerlich aber schäbig wirkenden Baus, von dem einer der beiden Türme eingestürzt war. Die Gestaltung orientierte sich überwiegend am Vorhandenen und an alten Darstellungen, jedoch verstieg man sich zu einigen Zutaten wie dem neoromanischen Vierungsturm. Das Gotteshaus gehört heute zur evangelisch-lutherischen Domgemeinde St. Petri. Es steht seit 1973 unter Denkmalschutz.“

Foto 2: Blick in die Westkrypta.

Bereits im Jahre 1638 stürzte der Südturm ein, wurde mehr schlecht als recht „restauriert“. Lange Zeit sollte das Provisorium nicht bestehen. Dombaumeister Ernst Erhardt stellt in seinem „Handbuch und Führer“ (1) fest: „Wenige Jahrzehnte später wurden die Spitze des Südturms und ein Teil des Kirchendaches durch Brand zerstört. Seit jener Zeit war die ehemals stolze und stattliche Kathedrale der bremischen Erzbischöfe dem Verfall anheim gegeben, der immer weiter fortschritt und bis in die neuere Zeit dauerte.

Ein Teil der Westseite lag in Trümmern, große Flächen der ehemals fest gefügten Mauern hatte das Wetter arg zerfressen, die Portale waren zerstört, Bildwerke abgemeißelt. So bot im Westen die Kirche in ihrer Verstümmelung und Verwitterung einen unerfreulichen Anblick. Aber auch an den übrigen Seiten schritt der Verfall … fort. .. Im Inneren waren die Gewölbe durch das Ausweichen der Mauern sehr schadhaft geworden, und deckten mehrere Anstriche die alten Malereien. Die vielen Schäden, die das Gebäude in den letzten Jahrhunderten durch Feuer und Menschenhand erlitten hatte, wurden entweder gar nicht oder nur notdürftig beseitigt. Endlich, im Jahre 1888, begann eine großartige Wiederherstellung des Domes in all seinen Teilen.“

Foto 3: Blick in die Ostkrypta.

Wer noch echten „Ur-Dom“ erleben will, der muss in die Unterwelt hinab steigen, und zwar in die Westkrypta. Sie ist der älteste erhaltene Raum Bremens. Geweiht wurde die Westkrypta im Jahre 1066 von Erzbischof Adalbert. Auf der offiziellen Homepage des Doms lesen wir (2): „Ihr beträchtliches Alter ist der Westkrypta auch äußerlich anzumerken: unregelmäßig geschichtetes Mauerwerk, Säulenkapitelle mit eigenartigem steinernem Flechtwerk und Tierdarstellungen unterstreichen den altertümlichen Raumeindruck.“

Das gilt natürlich auch für die Ostkrypta. Erstaunlich offen heißt es auf der Homepage des Bremer Doms (3):

Foto 4: Säulen mit geheimnisvollen Darstellungen um den Altar

„Dieser einheitlich frühsalische Raum ist in seiner ursprünglichen Gestalt unverändert geblieben. Schon Erzbischof Bezelin wird ihn 1042 angelegt und Erzbischof Adalbert die Bauarbeiten fortgesetzt haben. Unter Erzbischof Liemar († 1101) erhielt die Ostkrypta ihre endgültige Gestalt.“ Und weiter: „Besondere Beachtung verdienen die Kapitelle der Säulen im Altarbereich. Heidnisch/germanische Symbole wie der Fenris-Wolf, die Midgardschlange sind hier vermutlich dargestellt. Blüten- und Blumenmotive ergänzen das Bildprogramm. An anderer Stelle sind Pentagramm und Maske zu finden.“

Der Bremer Dom wurde (4) „vom 11. Jahrhundert an über den Fundamenten älterer Vorgängerbauten errichtet“. Es ist also durchaus möglich, dass die Ostkrypta wie die Fundamente von älteren Vorgängerbauten übernommen wurde.

Wen wir uns der Ostkrypta und besonders den mysteriösen Darstellungen an den Säulenkapitellen zu. Sie sind so etwas wie ein Buch in Stein, das eine faszinierende Geschichte erzählt. Und diese Geschichte ist von besonderer Bedeutung für das christliche Deutschland. Es geht um eine spannende Zeit des Übergangs, nämlich vom Heidentum zum Christentum. Nirgendwo sonst wurde so deutlich geschildert, dass das Heidentum keineswegs von heute auf morgen spurlos verschwunden ist, um dem neuen Glauben, dem Christentum, Platz zu machen.


Fotos 5 und 6: Christrose in der Ostkrypta.

Diese Geschichte wird von diversen Darstellungen an Säulenkapitellen in der Ostkrypta erzählt. Man kann die etwa tausendjährigen Steinreliefs wie ein Buch lesen, benötigt dazu keinen Text. Anders als die Säulenkapitelle im Hamelner Münster sind die Steinreliefs in der Bremer Ostkrypta nicht in schwindelnder Höhe, sondern fast in Augenhöhe angebracht.

Im steinernen „Buch“ der Ostkrypta des Doms zu Bremen begegnen christliche und heidnische Symbole einander. Sollten Sie den Dom besuchen, dann empfehle ich ihnen der Ostkrypta möglichst viel Zeit zu widmen. Lassen Sie die Zeichen und Symbole auf sich wirken. Die kuriosen Mumien aus dem einstigen „Bleikeller“ sind gruselige Kuriosa, aber weit weniger wichtig, wie ich meine.


Foto 7: Christus-Rose und der Wotan-Rabe.

Wenn ich in die Ostkrypta des Doms zu Bremen hinabsteige, dann kommt es mir so vor, als würde ich mit jeder Treppenstufe die lärmende Hektik des 21. Jahrhunderts ein Stück weiter hinter mir zurücklassen. In der „Unterwelt“ der Ostkrypta stört mich die Bestuhlung ein wenig. Der niedrige Raum mit den wie aus Stein gewachsenen Säulen wäre in seiner Schlichtheit ohne diese Sitzmöbel aus unseren Tagen noch beeindruckender. Mir wird klar: Jeder von uns trägt zum Lärm, der die Konzentration auf Wichtigeres erschwert, selbst bei. Wir beklagen uns, dass wir „keine Zeit haben“, aber warum nehmen wir uns nicht einfach Zeit, etwa um in der Ostkrypta des Doms zu Bremen einfach nur die Stille auf uns wirken zu lassen? Könnte es sein, dass wir dann die Darstellungen, die vor rund einem Jahrtausend in den Stein gemeißelt wurden, intuitiv verstehen?

Foto 8: Christus-Rose und Wotan-Rabe nebeneinander

Immer wieder taucht an den Säulenkapitellen ein Symbol auf, das uns Wolfgang Oehrl so erklärt (5): „Christus (symbolisiert durch die Rose) verdrängt die Unendlichkeitsspirale und den Wotansraben.“ Die Rose als Symbol für Christus ist mir schon bei meinem ersten Besuch vor Ort aufgefallen. Freilich sehe ich keine Verdrängung. Vielmehr harmonieren die verschiedenen Symbole miteinander. Offenbar existierten vor rund einem Jahrtausend Christentum und Heidentum nebeneinander.

Neben die „Christus-Rose“ wurde ein Rabe gesetzt, Symboltier des Wotan (6). Wotan alias Odin war der mächtige Göttervater, auch Kriegs- und Totengott, der Gott der Dichtung und der Magie. Wer genauer hinsieht, der entdeckt, meist doppelt, Eschenblätter, also Blätter von Yggdrasil, vom „Weltenbaum“. Nach alter Mythologie fand Wotan, in Begleitung von zwei weiteren Göttern, am Strand zwei Baumstämme, nämlich einer Esche und einer Ulme oder Erle (7). Aus der Esche entstand der erste Mann, aus dem anderen Baumstamm die erste Frau. Eschenblätter und Rabe neben der Christus-Rose weisen meiner Meinung nach auf ein Neben- und Miteinander von „heidnischem!“ und „christlichem“ Glauben hin.


Foto 9: Kampf zwischen Schlange und Wolf.

Sehr interessant ist die Darstellung eines Kampfes zwischen einem Wolf und einer Schlange. Wolfgang Oehrl erklärt (8): „Ein Rabe weist auf Wotan, die vielen Eschenblätter auf den Weltenbaum Yggdrasil, der Fenris-Wolf (das Böse) kämpft gegen die Midgardschlange, die den Lebensraum unserer Vorfahren schützen soll.“

In der nordischen Mythologie waren der Fenris-Wolf und die Midgard-Schlange Todfeinde. Die Midgard-Schlange beschützte die Erde vor dem Urozean. So wie ich die Darstellungen in der Ostkrypta des Doms zu Bremen verstehe, kämpfte sie gegen den Fenris-Wolf und sicherte die Christus-Rose. Mit anderen Worten: Die nordische Mythologie muss vor rund einem Jahrtausend noch so mächtig gewesen sein, dass sie von den frühen Christen zumindest teilweise übernommen wurde. Die Menschen waren noch im alten Glauben verwurzelt. Es sollte ihnen leichter gemacht werden, zum neuen Glauben zu wechseln, einfach indem im neuen Glauben Motive aus dem alten Glauben auftauchten.

Foto 10: Abstrakte Dekoration oder mysteriöses Gesicht?

„Panta rhei“ heißt es im Altgriechischen. Heraklit (* um 520 v. Chr.; † um 460 v. Chr.) soll das Wort geprägt haben. Plato (*428/427 v.Chr., †348/347 v.Chr.) zitierte die Formel und Simplikios (etwa 480-490n.Chr., † nach 550 n.Chr.). Die Römer übersetzten das prägnante Wort mit „cuncta fluunt“. Zu Deutsch: „Alles fließt“.

„Alles fließt“… Uralter Glaube verschwindet nicht. Er wird nicht ersatzlos gestrichen, um neuer Religion Platz zu machen. Tief verwurzelte Überzeugungen tauchen in neuem Gewand wieder auf. Für die altnordischen Sagen war der Fenris-Wolf, den die Götter fürchteten, das Böse, den die Götter fürchteten. In der Krypta zu Bremen ist es der Fenris-Wolf, der das Christentum gefährdet. Die Midgard-Schlange schützt nun nicht die Welt vor dem Urozean, sondern den christlichen Messias und kämpft gegen den Fenris-Wolf. Der Fenris-Wolf, auch „Monster am Fluss“ genannt, überlebte jede Religionsreform. Im Aberglauben des Hexenwahns diente er den Hexen als Reittier.

Foto 11: Augen, Nase, ein Gesicht... oder verschlungene Linien

Wenn Theologen es ernst meinen, versuchen sie Bilder des Glaubens zu ihren Ursprüngen zurück zu verfolgen.


Fußnoten
1) Erhardt, E(rnst): „Der Dom in Bremen/ Handbuch und Führer“, Bremen 1921, Seite 4 (Die Schreibweise wurde nicht der heutigen angepasst, sondern belassen!)
2) http://stpetridom.de/index.php?id=26&L=0
3) http://stpetridom.de/index.php?id=27
4) 1) Erhardt, E(rnst): „Der Dom in Bremen/ Handbuch und Führer“, Bremen 1921, Seite 4
5) Oehrl, Wolfgang: „Glaubenswandel vor 1000 Jahren“, Artikel schienen in „NORDWEST ZEITUNG“ vom 16. Dezember 2017, S. 4
6) Andere Schreibweise: Wodan
7) Der zweite Baum wird als „Embla“ bezeichnet. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Ulme oder Erle.
8) Oehrl, Wolfgang: „Glaubenswandel vor 1000 Jahren“, Artikel schienen in „NORDWEST ZEITUNG“ vom 16. Dezember 2017, S. 4

Foto 12: Beeindruckende, schlichte Kunst aus Stein.

Zu den Fotos

Alle Fotos entstanden am Freitag, den 2. März 2018, am Wochenende des 23. Seminars "Fantastische Phänomene". "Fantastische Phänomene" findet immer am ersten Wochenende im März in  Bremen-Vegesack statt.

Foto 1: Der Dom zu Bremen. Ansichtskarte von  1899.  Foto/ Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 2: Blick in die Westkrypta. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 3: Blick in die Ostkrypta. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 4: Säulen mit geheimnisvollen Darstellungen um den Altar. Foto Walter-Jörg Langbein
Fotos 5 und 6: Christrose in der Ostkrypta. Fotos Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Christus-Rose und der Wotan-Rabe. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 8: Christus-Rose und Wotan-Rabe nebeneinander. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 9: Kampf zwischen Schlange und Wolf. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 10: Abstrakte Dekoration oder mysteriöses Gesicht? Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 11: Augen, Nase, ein Gesicht... oder verschlungene Linien? Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 12: Beeindruckende, schlichte Kunst aus Stein. Foto Walter-Jörg Langbein

437 „Der steinerne Riese von Thelitz“,
Teil  437 der Serie
„Monstermauern, Mumien und Mysterien“                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint bereits am 03.06.2018


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Sonntag, 22. März 2015

270 »Von Mäusen, Schlangen und Drachen Teil 2«

Teil 270 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Vézelay.. Erschreckende Kirchenkunst...

Dr. Götz Ruempler weist in seinem wichtigen Werk auf Mäuse in einem der schönsten Gotteshäuser überhaupt hin. Sie befinden sich  in der Basilika Sainte-Marie-Madeleine. Dr. Götz Ruempler schreibt (12): »An der Basis der linken Säule des Hauptportals der Kathedrale Sainte-Madeleine in Vézelay (Burgund) richten sich Mäuse genauso auf wie die Maus im Bremer Dom.«

Mein Vater Walter Langbein sen. Unterrichtete am »Meranier-Gymansium Lichtenfels« Englisch und Französisch. Er bereiste England, Frankreich und die USA, arbeitete auch in Frankreich und in den USA als Lehrer. Intensiv sind meine Erinnerungen an die Basilika von Vézelay. Der wuchtige Turm beeindruckte mich sehr. Ausführlich erklärte mir mein Vater  die kunstvollen Kapitelle, die alle in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden sind.

Da gab es eine Mühle zu sehen, in die Moses Getreide schüttet. Ein Mann steht bereit und nimmt das Mehl an. Konnte das Volk vor rund 900 Jahren die Bilder wie ein Buch lesen und verstehen? Angeblich gab es einst eingravierte kurze Erklärungen zu den einzelnen Bildern, die allerdings irgendwann entfernt wurden.

An eine weitere Darstellung kann ich mich erinnern: Da liegt ein bärtiger Mensch auf einem Bett, offenbar auf seinem Totenlager. Auf seinem Leib steht ein furchteinflößendes Wesen mit weit aufgerissenem Maul. Es scheint zu schreien. Oder will es mit seinen mächtigen Zähnen zubeißen? Rechts daneben steht eine weitere Kreatur, die ebenfalls ein kräftiges Gebiss zur Schau stellt. Das linke Monster hat den Arm eines Menschen gepackt, mit beiden Händen zerrte es daran. Will die Kreatur den Menschen fressen? Das Monster rechts piesackt den Menschen mit einem Marterwerkzeug. Laut den Erklärungen eines befragten Priesters ist das Szenario wie folgt zu verstehen: Auf dem Bett liegt ein Toter. Seine Seele hat soeben seinen Leib verlassen und wird von zwei teuflischen Kreaturen in Empfang genommen. So wird der Tote für seine zu Lebzeiten begangenen Sünden bestraft.

Eva mit Schlange?

Mir hat sich besonders intensiv eine mysteriöse Abbildung auf einem der Kapitelle eingeprägt. Eine Gestalt meinte ich sofort erkennen zu können: Einer weibliche Person, offenbar nackt, wird von einer Schlange angegangen. Das Tier windet sich um die Beine der Frau, klettert empor. Das musste Eva sein. Wer aber war die zweite Person? Die Gestalt aus Stein, ebenso nackt, neigt sich nach hinten. Sie hat den Mund, auch die Augen, weit aufgerissen und stößt offenbar einen lauten Schrei aus. Mit beiden Händen umklammert die Gestalt den Griff eines Schwertes, den sie sich in den Leib rammt. Ein Priester erklärte, dargestellt sei nicht die Eva, sondern die personifizierte Wollust. Der nackte Mann mit dem Schwert versinnbildliche die Verzweiflung. Mir eingeprägt hat sich das schmerzverzerrte Gesicht der »Verzweiflung«.

Mann mit Schwert?

Wie viele Mausdarstellungen mag es in christlichen Kirchen geben, die bis heute nur einem kleinen, eingeweihten Kreis bekannt sind? Ob alle diese Mäuse die »christianisierte« Form jener Artgenossen sind, die in heidnischen Zeiten Göttern wie Cernunnos zugeordnet wurden? Für mich ist Cernunnos ein »alter Bekannter«. Zum ersten Mal sah ihn schon vor Jahrzehnten bei meinem ersten Besuch im norditalienischen Val Camonica. Dort wurde die Gottheit als riesenhafte Göttergestalt in den Stein geritzt. Daneben sehen wir ein kleines Menschlein mit erhobenen Händen. Ober zu Cernunnos betet? Der Gott selbst hat auch die Arme gen Himmel gereckt. Vielleicht begrüßen sich Mensch und Gott? Die vergleichsweise hünenhafte Gottheit trägt ein Geweih.  Deutlich auszumachen ist eine Schlange am Arm.

Kessel von Gundestrup

Auch auf dem berühmten keltischen Kessel von Gundestrup wurde Cernunnos mit Geweih und Schlange verewigt. Anno 1891 fand man das silberne Kultobjekt im Fuchsmoor bei Gundestrup im dänischen Himmerland. Datiert wird er auf das fünfte bis erste Jahrhundert vor Christi Geburt. Ich sprach mit einem Kurator des »Dänischen Nationalmuseum Kopenhagen«. Nach Überzeugung des Wissenschaftlers wurde der Kessel vor gut zwei Jahrtausenden bewusst zerstört und zerteilt. Die Teilstücke wurden im Moor abgelegt. »Von wem?«, wollte ich wissen. Mein Gesprächspartner vom Museum meinte, mehrere Antworten seien denkbar. Er selbst favorisiere zwei Erklärungen, die sich seiner Meinung nach anböten.

Cernunnos von Gundestrup

These 1: Nachdem man sich vom »heidnischen« Glauben abgewandt hatte, sollte das alte Kultobjekt beseitigt werden. Aus Respekt vor dem einst sakralen Kessel zerlegte man ihn in seine Einzelteile – dreizehn Platten aus Silber – und bestattete sie im damals schon ausgetrockneten Moor.

These 2: Der Kultkessel sollte davor bewahrt werden, Feinden in die Hände zu fallen. Deshalb versuchte man ihn, in Sicherheit zu bringen, zu verstecken… und hat ihn zerlegt. Auf diese Weise verlor er – vorübergehend – seine magische Macht. Jederzeit konnte er wieder ausgegraben und zusammengesetzt werden.

Cernunnos im Val Camonica
 Die Steingravur von Cernunnos mit der Schlange im Val Camonica ist eindeutig keltisch beeinflusst, wenn nicht gar von Kelten selbst in den Stein gemeißelt worden. Auch Cernunnos vom legendären Kessel hält eine Schlange. Das mysteriöse  norditalienische Tal hat über einen Zeitraum von zehn Jahrtausenden immer wieder Menschen unterschiedlichster Kulturkreise angezogen, die dort siedelten und hunderttausende Kunstwerke schufen.

Auch das (bei Cernunnos göttliche) Attribut Schlange findet sich – wie zum Beispiel die Taube –  im christlichen Glauben wieder, allerdings als teuflisch-böses Tier. Aus der Taube der Göttin Venus und anderer weiblicher Gottheiten wurde die Heilige Geistin, die wiederum zum männlichen Heiligen Geist gewandelt wurde. Immer wieder zeigt es sich, dass positive göttliche Attribute im Christentum im wahrsten Sinne des Wortes verteufelt wurden: aus der positiv besetzten Schlange wurde der Teufel, aus dem einst göttlichen Drachen wurde ein Monster.

Der kleine Drache von Urschalling
Wer kennt sie nicht, die Darstellungen vom Heiligen Drachentöter hoch zu Ross. Der Drache zu Urschalling am Chiemsee ist als Wandmalerei nur noch zum Teil erhalten. Man erkennt allerdings, dass das sterbende »Monster« im Vergleich zum Pferd des Heiligen Georg klein war.

In Marienmünster erfährt der Drache eine Verwandlung… zum Teufel in Menschengestalt, mit »Drachenflügeln« am Kopf. Vergessen wir nicht, dass in vorbiblischen Zeiten der Drache eine Urgöttin der Meere war, die hoch angesehen und angebetet wurde. In Marienmünster jedenfalls sollte auf möglichst anschauliche Weise verdeutlicht werden, was da nach christlicher Theologie geschah! Da kämpfte kein irdischer Heros gegen einen bemitleidenswerten Drachen in Dackelgröße, da waren himmlische Kräfte am Wirken... gegen den Teufel selbst.

Drachenteufel von Marienmünster

Dr. Ruempler weist auf eine ganz besonders interessante Kombination hin. Auf einer Miserikordie des Chorgestühls im Dom zu Köln entdeckte er Mysteriöses (13): Ein Drache mit weit ausgebreiteten Flügeln hält in seinen Klauen eine Maus. Miserikordien waren Gesäßstützen, auf die man sich zwar nicht wie auf einen Stuhl setzte, die aber doch beim langen Stehen während des Gottesdienstes die Beine entlasteten. Vorbehalten waren derlei Erleichterungen der Geistlichkeit oder hohen Würdenträgern. Auf der Unterseite dieser nach oben und unten klappbaren hölzernen Stützen waren oft Schnitzereien angebracht. Groteske Gestalten wurden da verewigt, auch plastische Darstellungen von Lastern, Sphingen und andere Fabelwesen. Im 14. Jahrhundert stellten Künstler in derlei Schnitzereien oft dar, was ansonsten in Gotteshäusern nicht offen gezeigt werden durfte. Auch wenn diese offenbar oft drastischen Abbildungen vom normalen Gottesdienstbesucher nicht gesehen werden konnten, wurden viele dieser interessanten Kunstwerke im Verlauf der Jahrhunderte aus den Gotteshäusern entfernt.

Eine ganz ähnliche Kreatur entdeckte Dr. Ruempler im oberen Kreuzgang der Marienburg bei Danzig. Auf einem Schlussstein sieht man ein ganz ähnliches Fabelwesen, wiederum mit einer Maus in den Klauen. Dr. Ruempler identifiziert es als Fledermaus. Es könnte aber ebenso ein Drache sein.

Dr. Ruempler bietet eine Erklärung an für die kombinierte Darstellung von Maus und Drache und von Maus und Fledermaus (14): »Fledermaus und Drache als Symbol für das Böse, für Hexen und Teufel werden durch ihre Darstellung unwirksam gemacht, gleichsam gebannt, und beide halten die Maus fest im Griff – die Maus als Sinnbild für Hexen. Auch der Nager wird dadurch kraftlos, hilflos. Gier wird also der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben! Das Böse hat – sinnbildlich – seine Macht verloren.«

Wir müssen uns fragen: Was ist der Ursprung von Symbolen wie Drache, Fledermaus und Maus? Sie wurden nicht von christlichen Theologen erfunden. Sie sind sehr viel älter als das Christentum, ja als das »Alte Testament«. Sie stammen – davon bin ich überzeugt – aus älteren Religionen. Aus den Göttinnen von einst wurden Drachen und Meeresungeheuer. In »christlichen« Symbolen leben sehr viel ältere Bilder weiter. Die Taube des »Heiligen Geists« war zum Beispiel ursprünglich die Taube der Göttin Venus und ihrer Kolleginnen!

Ein Riesensymbol von Nazca, Peru
Die alten Symbole sind Wegweiser auf einer Reise zu den Ursprüngen der Menschheit. Und das weltweit.. von Bremen bis Peru! »Alles fließt!«, soll Heraklit (etwa 520 v.Chr. bis 460 v.Chr.) verkündet haben. Fließend sind die Übergänge von Religion zu Religion, und das seit ungezählten Jahrtausenden. Nur wer stur auf eine ganz bestimmte Ausprägung einer Religion fixiert ist, kann zum gefährlichen Fanatiker werden. Wer aber die Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten, wer die ältesten Quellen und Ursprünge sucht, der erkennt vielleicht den Weg des Friedens, fern von fundamentalistischen Doktrinen jeder Art.

Es ist an der Zeit, dass alle Darstellungen in christlichen Kirchen, die eventuell einen heidnischen Ursprung haben, gesucht, gesichtet und katalogisiert werden! Ich vermute, dass so manches Kleinod wie die Dom-Maus von Bremen versteckt angebracht wurde.

Mein Vorschlag: Liebe Leserinnen und Leser, besuchen Sie doch Ihre Kirche vor Ort und suchen Sie nach Schlangen-, Drachen- und Mausdarstellungen! Fragen Sie den örtlichen Geistlichen, den Küster und Führer. Oft wissen örtliche Heimatforscher mehr als die »offiziellen« Stellen und freuen sich über Interesse!

Sollten Sie fündig werden, würde ich mich über eine Benachrichtigung sehr freuen! Im Voraus vielen Dank!

Fußnoten

(12): Ruempler, Götz: »Die Bremer Dom-Maus/ Geschichte, Geschichten und ›Mäuse-Latein‹«, Band 3 der Schriftenreihe der Stiftung Bremer Dom e.V., 2. durchgesehene Auflage, Bremen 2010, S. 48
(13): Ruempler, Götz: »Die Bremer Dom-Maus/ Geschichte, Geschichten und ›Mäuse-Latein‹«, Band 3 der Schriftenreihe der Stiftung Bremer Dom e.V., 2. durchgesehene Auflage, Bremen 2010, S. 46 und 49
(14): Ruempler, Götz: »Die Bremer Dom-Maus/ Geschichte, Geschichten und ›Mäuse-Latein‹«, Band 3 der Schriftenreihe der Stiftung Bremer Dom e.V., 2. durchgesehene Auflage, Bremen 2010, S. 46 und 47


Literaturempfehlung

Ruempler, Götz: »Die Bremer Dom-Maus/ Geschichte, Geschichten und ›Mäuse-Latein‹«, Band 3 der Schriftenreihe der Stiftung Bremer Dom e.V., 2. durchgesehene Auflage, Bremen 2010

Rezension durch Walter-Jörg Langbein für amazon
(Fünf  Sterne)

Köstliche Kulturgeschichte … in Sachen Maus im Dom – und mehr!

Götz Ruempler, einer der besten Kenner des Doms zu Bremen, hat mit »Die Bremer Dom-Maus« ein zugleich köstliches wie informatives Büchlein geschrieben. Der Untertitel - »Geschichte, Geschichten und Mäuselatein‹« - verspricht nicht zu viel. Dr. Ruempler nimmt die »Maus im Bremer Dom« zum Anlass, um über eine Vielfalt von Themen zu informieren.

Einige Themenschwerpunkte des erstaunlich tiefschürfenden, durchgehend mit Fotos in Farbe illustrierten Opus seien genannt: »Die Maus in Naturkunde und Medizin bei Hildegard von Bingen«, »Die Maus in der Tierfabel« und »Die Bremer Dom-Maus – keine ›Schnurre‹, sondern ein Hexensymbol«.

Dr. Ruempler, Zoologe und Experte für mittelalterliche Tierdarstellungen, danke ich für wirkliches Lesevergnügen, für kurzweilige und stets fundierte Informationen! Lesen Sie, staunen Sie über die kleine »Bremer Dom-Maus« und ihre Artgenossen in zahlreichen anderen Kirchen! »Die Bremer Dom-Maus« ist für jeden Besucher des Doms zu Bremen ein Muss… und für jeden Zeitgenossen, der sich für »versteckte Geheimnisse« uralter sakraler Kultbauten interessiert.

Dr. Ruempler ist es glänzend gelungen zu beweisen, wie lesenswert, alles andere als langweilig, sondern unterhaltsam ein kulturhistorisches Werk sein kann!

Verfasser: Walter-Jörg Langbein


Fotos

Vézelay.. Erschreckende Kirchenkunst... wiki commons/ Vassil
Da gab es eine Mühle zu sehen... wiki commons/ Vassil
Eva mit Schlange? wiki commons/ Vassil
Mann mit Schwert? wiki commons/ Vassil
Kessel von Gundestrup: wiki commons/ Magnus Manske
Cernunnos von Gundestrup: wiki commons/ Magnus Manske
Cernunnos im Val Camonica: Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Der kleine Drache von Urschalling: Foto Walter-Jörg Langbein
Drachenteufel von Marienmünster: Foto Walter-Jörg Langbein
Ein Riesensymbol von Nazca/ Peru: Foto Walter-Jörg Langbein
Buchcover Ruempler: Verlag/ amazon

271 »Hexen und ein Steinerner Mann,«
Teil 271 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 29.03.2015


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