Montag, 18. Januar 2010

"Lies mir etwas vor"

Ab wann sollten Kinder eigentlich anfangen, hin und wieder ein Buch zu lesen?
Gute Frage. Denn wirklich lesen können die meisten ja erst, wenn sie ein bis zwei Klassen der Grundschule hinter sich haben. Also kann man sich vorher den Kauf von Büchern eigentlich sparen?

Nein, natürlich nicht. Lesen beginnt sehr viel früher im Leben. Genau genommen ist schon das Betrachten von Bildern, die erste Form des Lesens. Wer der Meinung ist, dass das kein „richtiges“ Lesen ist, der irrt. Die ersten geschriebenen Geschichten und Nachrichten, die Menschen hinterlassen haben, bestanden auch aus Zeichnungen und Abbildungen ihrer Erlebnisse, Vorstellungen und Vermutungen. Und andere Menschen waren in der Lage diese Bilder zu lesen und weiterzuerzählen.

Bilderbücher für Kinder machen also durchaus Sinn. Ein dort abgebildetes zweidimensionales Auto zu erkennen, ist schon die erste Leseleistung. Denn was für uns Erwachsene so einfach und selbstverständlich ist, muss ein junges Gehirn erst erkennen: Das dreidimensionale Auto auf der Straße kann zweidimensional abgebildet werden. Steht unter dieser Abbildung dann noch das Wort „Auto“, dann ist das für das Gehirn ein Angebot, das Abbild Auto mit einer bestimmten Zeichenkombination abzuspeichern, die „irgendwie“ dazugehört. Auch, wenn ein Kind den Zusammenhang noch nicht erkennt.

Eltern, die mit ihren Kindern die Bilderbücher gemeinsam ansehen, können noch einen weiteren Schritt mit dem Kind gehen, ohne dass das Ganze etwas damit zu tun hat, dem Kind aus eigenem Ehrgeiz, unbedingt das Lesen beizubringen und es zu überfordern. Ganz einfach, indem die Dinge, die betrachtet werden, auch gleich einen Namen bekommen. So erfahren schon die Kleinsten, dass ein Bild etwas ist, das man mit Worten beschreiben kann. Das Gehörte und Gesehene wird als Einheit abgespeichert. Passiert dies einige Male, dann wird das Kind sehr schnell ein Lieblingsbuch haben, dessen Inhalt es auswendig kennt. Es kann anhand der Bilder und der Schrift die Dinge erkennen und benennen. Ist es an diesem Punkt, dann funktioniert das Ganze schon bald ohne die dazugehörigen Bilder. Denn die Zeichenfolge wurde ja mit dem Bild zusammen abgespeichert. So kann es, passieren, dass Kinder das Wort Auto sehen und dann entrüstet mitteilen: „Auto weg!“. Klar, sie haben Recht, das Abbild des Autos ist verschwunden. Dennoch haben sie das Wort gelesen und mit dem richtigen Gegenstand verknüpft.

Doch das Lesen lernen hat noch andere Aspekte. Zweidimensionale Bilder können Babys noch nicht erkennen. Sie reagieren gelangweilt, wenn man mit ihnen Bilder betrachten möchte. Dennoch kann eine Vorbereitung zum Lesen und zum Sprachverständnis stattfinden. Und zwar durch das Vorlesen. Dabei geht es in den ersten eineinhalb Jahren nicht so sehr darum, den Inhalt zu verstehen, sondern vor allem darum, Wortmelodien aufzunehmen und unterschiedliche Stimmungen daraus zu erkennen. Mein ältester Sohn hat meiner jüngsten Tochter bereits im Alter von zwei Monaten jeden Morgen Artikel aus der Zeitung vorgelesen. Erstaunlicherweise hat sie aufmerksam gelauscht. Seiner Stimme, seiner Betonung und ich denke, sie hat sehr wohl registriert, dass das Vorlesen aus der Zeitung sich völlig von der sprachlichen Zuwendung unterscheidet, die sie sonst gewohnt war.

In den Jahren bis zum Schuleintritt, und noch eine Zeit darüber hinaus, habe ich meinen Kindern jeden Abend vor dem Schlafen vorgelesen. Eltern, die das machen, höre ich gerade aufstöhnen. Denn nicht immer ist das ein reines Vergnügen. Zum Beispiel dann nicht, wenn ein Kind - aus welchem Grund auch immer - eine Lieblingsgeschichte hat, die es wochen- oder monatelang immer wieder vorgelesen haben möchte. Man kann Kinder nicht an der Nase herumführen und vielleicht zur eigenen Entlastung, den einen oder anderen Satz überspringen. Da gibt es sofort Protest, weil das Kind die Geschichte längst in- und auswendig kennt. Für derart geplagte Eltern mag es sinnlos erscheinen, Abend für Abend den gleichen Text vorzulesen. Tun sie es trotzdem! Ihr Kind beschäftigt sich offensichtlich sehr intensiv mit dem Inhalt der Geschichte. Und das ist die zweite wichtige Voraussetzung, um wirklich lesen zu können: Die Aussagen in einem Text aufzunehmen, zu verarbeiten und zu verstehen. An diesem Punkt kann man sich ziemlich sicher sein, dass dieses Kind schon sehr bald ein Interesse entwickeln wird, herauszufinden, welche spannenden Geschichten in anderen Büchern stecken mögen. Fangen Kinder an, im Alter von etwa sieben Jahren, die ersten Bücher selbstständig zu lesen, dann sollten sie diese unbedingt selbst aussuchen dürfen. Eltern sollten ihrem Kind niemals ein Buch verweigern, weil sie der Ansicht sind, dass es pädagogisch nicht wertvoll genug ist oder ihnen sinnlos erscheint. Je mehr unterschiedliche Bücher Kinder lesen, desto kritischer können sie auch in der Auswahl ihrer Lektüre werden.



Das Lesen von Büchern ist für die kindliche Entwicklung ein ungeheurer Gewinn, der sich für das ganze Leben, auf alle Ebenen positiv auswirkt. Es fördert die Fantasie, erweitert den Wortschatz, verbessert das Verständnis für umfassende Zusammenhänge, gibt Anreize und Vorlagen zu kritischem Denken, fördert die Konzentration und macht nicht zuletzt auch noch einen Riesenspaß! Lesen ist ein aktiver Vorgang und ungleich spannender als das Betrachten von Fernsehbildern, wo kaum Raum bleibt, für eigene kreative Prozesse im Denken. All diese Eigenschaften erleichtern Kindern den erfolgreichen Schulbesuch und so manch kleine Leseratte, beginnt schon bald mit dem Schreiben eigener Geschichten.

Schenken wir Kindern Bücher und fördern wir das Lesen, wo immer es möglich ist. Damit Menschen aufwachsen, die in der Lage sind, Dinge von vielen verschiedenen Positionen aus zu betrachten und die fähig sind, bei auftauchenden Problemen, kreative Prozesse in Gang zu bringen, die befriedigende Lösungen nach sich ziehen. Das kommt sowohl dem einzelnen Menschen, wie auch unserer Gesellschaft zugute.

Übrigens, sobald die Kinder selbst lesen können, ist es eine herrliche Beschäftigung, an verregneten Sonntagnachmittagen, sich gegenseitig aus einem Buch vorzulesen und gemeinsam mit den Helden, zu lachen, zu weinen und eine spannende Zeit zu verbringen.

© gcroth
Fotos: oben: pixelio; Simone Peter;
unten: Satzstudio Roth

1 Kommentar:

  1. Je früher das Kind zu lesen beginnt, desto besser. Die Eltern müssen dies ständig fördern.

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