Sonntag, 28. August 2011

84 »Das Orakel in der Wüste«

Teil 84 der Serie
»Monstermauern, Mythen und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


Fata Morgana oder Ruine in der
Wüste -  Foto: W-J.Langbein
Flimmernd zittert die Luft über dem Wüstenboden. Es ist später Nachmittag ... das Licht verändert sich scheinbar von Augenblick zu Augenblick. Der harte, von der Sonnenglut verbrannte Staub scheint zu glimmen. Und am Horizont taucht plötzlich im Wüsteneinerlei so etwas wie eine Fata Morgana auf. Aber die hügelige Erhebung ist ebenso real wie das Mauerwerk, das vor vielen Jahrhunderten geschaffen wurde.

An einem »freien« Nachmittag bin ich von Lima, der peruanischen Metropole, mit dem Taxi über teilweise kaum noch als solche erkennbare »Straßen« nach Pachacamac gefahren. Pachacamac ist ... war einst eine riesige Anlage. Als die Inkas das Pilgerzentrum eroberten, hatte es schon eine Geschichte von mindestens eineinhalb Jahrtausenden hinter sich.

Im Verlauf der vergangenen drei Jahrzehnte habe ich Pachacamac mehrere Besuche abgestattet. Ich habe stundenlang die immer noch weiträumigen Überreste des einstigen Kultzentrums zu Fuß umrundet und bin fasziniert vom großen Mysterium Pachacamac. Leicht gerät man ins Träumen und sieht märchenhafte Dinge. Es kommt mir so vor, als würde der graubraungelbe Wüstenboden etwas gebären.

Ruinen wachsen aus dem Boden
Foto: W-J.Langbein
Aus kleinen Hügelchen wachsen Mäuerchen. Sie kriechen empor und werden sich im Verlauf der nächsten Jahrhunderte in stolze Gebäude verwandeln. Oder erlebe ich, wie stolze Mauern aus uralten Zeiten, aufgetürmt aus an der Sonnenglut gebackenen Steinen, wieder mit der Wüste verschmelzen? Ehre, wem Ehre gebührt! Es sind Archäologen, die im glühenden Wüstenboden Verfallenes zu neuem Leben erwecken. In mühseliger Arbeit rekonstruieren sie Mäuerchen, trotzen staubigen Hügeln uralte Wände wieder ab ... die nach und nach erkennen lassen, wie Pachacamac wohl einst ausgesehen haben mag. Allerdings ist, wie einer der führenden Inka-Experten, Miloslav Stingl, konstatiert (1), »ein Teil der Ruinen aus der späteren Inka-Zeit restauriert worden«.

Pachacamac war keine Wohnstadt, sondern ein religiöses Zentrum. Pachacamac war das Orakel der Wüste, das schon vor Jahrtausenden im fernen Peru Menschen anlockte wie »unser« europäisches Delphi. Hier regierte Pachacamac, der »Herr der Welt, der die Ordnung und den Gang der Dinge, die Gesetze der Welt und des Weltalls bestimmt« (2). Hier herrschte Frieden in einer neutralen Zone. Mag man sich sonst auch bekriegt haben, in Pachacamac ruhten die Waffen.

Der Sonnentempel der Inkas
Foto W-J.Langbein
Die Inkas respektierten Pachacamac. Gewiss, sie akzeptierten nicht, dass ihr Inti und der Gott Pachacamac identisch sein könnten. Aber sie ließen Pachacamacs Anhänger gewähren ... und blieben selbst ihrem Inti treu. Mir scheint: Beides waren verschiedene Namen eines Schöpfergottes ... Der alte Pachacamac-Kult bestand fort, sie erbauten aber noch ein weiteres Sakralgebäude: den Sonnentempel. Dieser wohl eins mächtige Komplex ist bis heute nur zu einem kleinen Teil rekonstruiert worden. Seine einstige Größe kann nicht einmal mehr erahnt werden. Offenbar hatte der Sonnentempel einst die Form einer Stufenpyramide mit fünf Plattformen. Für Diener und hochrangige Besucher, so meinen Archäologen feststellen zu können, gab es separate Eingänge.

Direkt vor dem Sonnentempel gab es offenbar so etwas wie einen Warteplatz für die Pilger. Bei Ausgrabungen wurden Löcher im Boden erkannt, in denen einst hölzerne Pfosten standen. Sie trugen vermutlich ein Dach, um die Pilger vor Sonne, Wind und Wetter zu schützen. Wie so oft sind wir auf Mutmaßungen und Spekulationen angewiesen.

Der Tempel von Pachacamac war das Mekka des Alten Peru. Jeder Anhänger des mächtigen Gottes sollte mindestens einmal im Leben die heiligen Stätten aufsuchen. Die Pilgerströme aus nah und fern brachten kostbare Opfergaben, auch aus Gold und Silber, in die altehrwürdigen Gemäuer. Es wurde ein riesiger Tempelschatz gehortet. Und es wurde viel in die Bauwerke investiert. Kein Zweifel: Pachacamac war sehr reich! Weite Regionen der Küste zahlten nicht in Cuzco, der Hauptstadt des Reiches, sondern in Pachacamac ihre Steuern. Selbst nach der Unterwerfung des Inkareiches wurden aus weit entfernten Regionen Abgaben nach Pachacamac gebracht. So verwundert es nicht, dass in einer Chronik aus der Zeit der Eroberung festgestellt, dass Pachacamac größer als selbst Rom gewesen sei.

Die Pyramide mit der Rampe
Foto: W-J.Langbein
Das weckte Begehrlichkeiten bei den Spaniern, die sich aufmachten, um das uralte Heiligtum zu plündern. Trotz reicher Beutezüge hofften die Spanier, noch »erfolgreicher« sein zu können. Sie folterten auf grausamste Wiese, um Hinweise auf geheime Verstecke zu erhalten.

Miloslav Stingl (3): »Zum Glück bekamen die Priester der Orakelstätte Wind von dem Feldzug der Spanier nach der heiligen Stadt, so dass sie den Hauptteil des Tempelschatzes rechtzeitig im Sand der Küstenwüste vergraben konnten. Aber auch das wenige, was in der Orakelstätte von Pachacamac übrig geblieben war, genügte Pizarros Raubgesellen. Sie erbeuteten in dem Tempel über 650 Kilogramm goldene Gegenstände von nie gesehener Schönheit und 16.000 Unzen Silbersachen.«

Und so wartet noch heute ein riesiger Schatz auf seine Entdeckung ... vermutlich zwei bis drei Tonnen (!) Gold und Silbersachen! Gold sahen die Inkas als »Schweißperlen der Sonne«, Silber als »Tränen des Mondes« an. Gold und Silber aber waren für die Inkas nicht der wirkliche Schatz. Die vierzehn Königsmumien galt es vor allem zu verteidigen ... doch vergeblich. Die Spanier plünderten die heiligen Tempel der Inkas, stampften edelste Arbeiten aus Gold und Silber ein. In Barrenform gegossen wurde die Beute nach Europa geschickt.

Der Mondtempel von
Pachacamak - Foto: W-J.Langbein
Die Spanier begnügten sich nicht damit, materielle Güter zu rauben. Sie zerrten auch die Königsmumien der Inkas aus ihren Gräbern und verbrannten sie öffentlich. So demonstrierte das »christliche Europa« seine Überlegenheit über das »heidnische Inkareich«!

Schon lange bevor die Inkas zur Großmacht im heutigen Südamerika aufstiegen, wurde das Orakel von Pachacamac befragt. Die Menschen nahmen strapaziöseste Märsche auf sich, um dem Orakel Fragen über die Zukunft zu stellen. Es gibt keine Überlieferungen, wie erfolgreich oder erfolglos das Orakel war. Offenbar warnte es aber nicht vor der Eroberung durch die Inkas. Auch die Inkas befragten das Orakel, als die »christlichen« Eroberer anrückten ... und wurden beruhigt. Sie würden, so wurde ihnen verkündet, die goldgierigen Fremden besiegen. Die Geschichte nahm, wie wir wissen, einen anderen Verlauf.

Besuche beim Orakel waren alles andere als Stippvisiten. Nach oft lebensgefährlicher Anreise folgte die intensive Vorbereitung des Pilgers. Priester leiteten die Pilger an. 90 Tage dauerte die Vorbereitungszeit. Es wurde gefastet. Und der Pilger musste aus seiner alltäglichen in eine spirituelle Welt geführt. Erst dann durfte er sich dem Orakel nähern. Wir wissen nicht, ob es so etwas wie ein Allerheiligstes gab. Wir wissen nicht, ob jeder Pilger bis zur Gottheit vorgelassen wurde ... oder ob dieser direkte Kontakt nur den Priestern erlaubt war.


Pachacamac selbst
Foto: W-J.Langbein
Bei Ausgrabungen in Pachacamac wurden erstaunlich gut erhaltene, gewebte Teppiche mit geheimnisvollen Motiven gefunden. Im Wüstenboden blieb auch ein hölzerner »Totempfahl« erhalten. Er hat – wie Janus – zwei Gesichter, blickt also in die Vergangenheit und in die Zukunft. Handelt es sich bei dem altehrwürdigen Objekt um das einstige Heiligtum von Pachacamac ... vielleicht gar um eine Darstellung der Gottheit selbst?

Übrigens: Pachacamac, der mächtige männliche Gott, war nicht allein! Seine Partnerin war Pachamama, auch Mama Pacha genannt. Sie soll ein weiblicher Drachen gewesen sein und war als Göttin der Fruchtbarkeit für Aussaat und Ernte verantwortlich ... und für Erdbeben!

Wie man Pachamama übersetze ... da gehen die Meinungen auseinander: »Mutter Erde« wird häufig verwandt, aber auch »Mutter Welt«. Das Wort »pacha« machte offenbar eine Entwicklung durch ... und soll zuletzt »Kosmos« und »Universum« bedeutet haben. Zuletzt? Oder war Pachamama in Wirklichkeit eine jener Urmütter, die vor dem Einsetzen des Patriarchats Himmel und Erde regierten?

Als der Katholizismus im einstigen Inkareich verbreitet wurde, war der neue Glaube für die Nachfahren der einst mächtigen Inkas so fremd nicht. Vertraut war ihnen die von den katholischen Priestern so verehrten Mutter Gottes Maria! War das nicht ihre Pachamama? Und so lebt Pachamama auch heute noch weiter, allen missionarischen Bemühungen zum Trotz ... als Himmelskönigin Maria!



Fußnoten
1 Stingl, Miloslav: »Auf den Spuren der ältesten Reiche Perus«, 2. Auflage, Leipzig 1990, S. 210
2 ebenda
3 ebenda, S.211 und 212

Weiterführende Literatur
4 Kurella, Doris: »Kulturen und Bauwerke des Alten Peru«, Stuttgart 2008
5 Langbein, Walter-Jörg: »Bevor die Sintflut kam/ Von Götterbergen und Geisterstädten, von Zyklopenmauern, Monstern und Sauriern«, München 1996, S.282 und S.283
6 Squier, George: »Peru/ Incidents of Travel and Exploration in the Land of the Incas«, New York 1877, Seiten 71, 149 und 150

»Der Lebensbaum in der Wüste«,
Teil 85 der Serie
»Monstermauern, Mythen und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 04.09.2011


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