Sonntag, 8. September 2013

190 »Begegnung auf dem Friedhof«

Teil 190 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Die Anakenabucht - Foto: Wiki Commons, Rivi
Zwei kräftige, junge Männer tragen die fast mannshohe hölzerne Statue gemessenen Schritts zum Friedhof, der direkt am Strand liegt.  Heftig spritzt die Gischt von scharfkantigen Felsen. Noch ist die hölzerne Figur in ein weißes Tuch gehüllt. Noch sind nur ihre Konturen zu erahnen. Zielstrebig gehen die beiden Männer, gefolgt von einer vergrämten Frau, auf ein Grab zu, wo sie die hölzerne Figur absetzen. Sie gehen sehr sorgsam mit dem hölzernen Idol um. Ihre Bewegungen lassen vermuten, dass sie den für sie heiligen Akt sorgsam geübt haben. Es geht um den Aku Aku ihres toten Vaters, erfahre ich später.

Ihre Mutter tritt hinzu, zupft nervös am Tuch. Ihre beiden Söhne überprüfen, ob die Statue auch wirklich sicher steht. Sie bewegen sie sanft hin und her. Kippt sie auch nicht? Dann ziehen sie langsam, geradezu ehrfurchtsvoll, die Hülle von der Statue. Noch einige Minuten verharren die drei Insulaner, dann entfernen sie sich, langsam rückwärts gehend. Erst in einigen Metern Entfernung haben sie es plötzlich eilig und entfernen sich hastig vom Friedhof.

Wie wurden die riesigen Osterinselstatuen aus dem Vulkangestein gemeißelt, transportiert und aufgestellt? Warum wurden die Kolosse geschaffen? Wen sollen sie darstellen? Warum wurden alle Steinkolosse zu Fall gebracht? Was steht auf den hölzernen Tafeln in rätselhaften Schriftzeichen? Werden wir je die Botschaften wie ein Buch lesen können?

Über diese Fragen wird seit Generationen diskutiert. Und immer wieder heißt es, dass endlich die Geheimnisse der Osterinsel entschleiert worden seien. Jetzt wisse man, wie die bis zu 20 Meter hohen Figuren kilometerweit geschleppt wurden. Bislang haben aber alle Lösungen nur auf dem Papier wirklich funktioniert. Wirklich  in die Realität umgesetzt werden konnte keine einzige der ach so einleuchtenden Antworten auf die »brennenden Fragen«.

Bei Licht betrachtet wird klar dass selbst simpelste Fragen nicht widerspruchslos beantwortet können. Ein Beispiel soll genügen ... So behauptet Wilhelm Ziehr nüchtern (»Zauber vergangener Reiche«, Stuttgart 1975): »Die Existenz monumentaler Steinplastiken auf der Osterinsel ist keineswegs so rätselhaft, wie oft behauptet wurde. Da Holz auf der Insel außerordentlich knapp war, bot sich das hingegen reichlich vorhandene Tuffgestein an.«

Nach wie vor rätselhaft ...
die Kolosse der Osterinsel
Foto: W-J.Langbein
Demnach waren also die Steinmetzen der Osterinsel künstlerisch veranlagt. Weil sie kaum Holz zur Verfügung hatten, stillten sie ihren Drang, Kunstwerke zu produzieren, indem sie riesenhafte Figuren aus dem Stein meißelten. Warum es dann aber teilweise über zwanzig Meter hohe Kolosse sein mussten, darüber schweigt sich Wilhelm Ziehr aus. Er bietet auch keinen Erklärungsversuch dafür an, wie denn die Statuen befördert wurden. Diese Frage meint Thor Heyerdahl hinlänglich beantwortet zu haben. Der Transport der Kolosse, so schreibt er (»Die großen Steine der Osterinsel« in »Versunkene Kulturen«, Zürich 1963), sei problemlos möglich gewesen, da auf der Osterinsel Holz in Hülle und Fülle zur Verfügung stand. Man habe Holzrollen, aber auch schlittenartige Vehikel gebaut – aus Holz, natürlich – und so die Riesenfiguren kilometerweit bewegt.
           
Ist das nicht kurios? Da hatten die Bewohner der Osterinsel einen unstillbaren Drang nach künstlerischer Betätigung. Für Schnitzwerk stand ihnen nur ein Material in Hülle und Fülle zur Verfügung. Also mussten die armen Osterinselkünstler Riesenfiguren aus Stein herstellen, weil ihnen kein Holz zur Verfügung stand. Und sie konnten die Statuen kilometerweit transportieren, weil Holz in Hülle und Fülle zur Verfügung stand. Der Widerspruch ist evident!

Meißelten die Osterinsulaner zunächst aus Holzmangel große, teilweise riesige Statuen aus Vulkanstein, ohne zu wissen, wie sie die Kolosse transportieren würden? Und legten sie dann riesige Wälder an, um Holz für Schlitten zu haben? Warteten sie  Jahrzehnte, um mit Hilfe des nun reichlich vorhandenen Holzes das Transportproblem lösen zu können?

Die Wirklichkeit sieht anders aus: Es gab einst reichlich Holz. Also hätten von Anfang an Statuen aus Holz geschnitzt werden können!

Was ich bei meinen Aufenthalten auf der Osterinsel gelernt habe: So manches Rätsel von Rapa Nui konnte bis heute nicht gelöst werden. Aber die wirklich spannenden Fragen werden in der Öffentlichkeit nicht einmal gestellt. So wissen wir so gut wie nichts über geheime Rituale, die heute noch praktiziert werden. Und die es offiziell gar nicht gibt, ist doch Rapa Nui ein Hort des christlichen Glaubens ... Angeblich!

Nichts ist bekannt über die mysteriösen Höhlen mit unzähligen Figürchen aus Stein und Holz. Nichts ist offiziell darüber bekannt, ob der alte Aku-Aku-Glaube noch lebt und gelebt wird. Nichts ist darüber bekannt, wie Aku-Aku-Zeremonien aussehen, wenn sie denn noch zelebriert werden. Ich weiß auch nicht, ob meine Begegnung auf dem Friedhof von Hanga Roa auf das Fortbestehen einer alten Religion im Volk hinweist ... oder ob da eine einzelne Familie einen seltsamen Kult zelebriert.

Stunden später ... Die Familie kehrt auf den Friedhof zurück. Die beiden Söhne tragen die hölzerne Statue ... sie erinnert an die weltberühmten Kolosse von Rapa Nui aus Stein ... einige Hundert Meter entfernt fast direkt an das steinige, zerklüftete Ufer. Dort haben sie offenbar eine Art »Scheiterhaufen« vorbereitet. Sie entzünden trockenes Gras und dürres Holz. Schon lodert die Flamme auf, der Holzstapel brennt lichterloh. Sie legen die Holzstatue in die Flammen. Ich entferne mich so diskret wie möglich.

Eine Holzstatue als »Zuflucht«
für einen Aku Aku
Foto: W-J.Langbein
Eine ganz ähnliche Holzfigur entdeckte ich bei einem meiner Besuche im »B. P. Bishop Museum«, Honolulu, Hawaii.

Am nächsten Mittag treffe ich einen der beiden Söhne am kleinen Hafen. Es kommt mir so vor, als bete er vor der steinernen Figur des christlichen Petrus. Als er wieder Richtung Dorf geht, spreche ich ihn an. Gemeinsam gehen wir den Weg empor zur Kirche. »Du hast unsere Insel schon mehrfach besucht ...«, stellt er trocken am Eingang zur Kirche fest. »Und du hast unser Ritual mit der hölzernen Figur beobachtet!« Ich nicke. »Ich hoffe, ich habe nicht gestört ...« Er schüttelt den Kopf. »Und du hast auch nicht fotografiert ...!« Das wäre doch unangebracht gewesen ... beteuere ich.

Der Friedhof der Rapa Nui
Foto: W-J.Langbein
Ungefragt erklärt mir der junge Rapa Nui: »Vor einigen Jahren verstarb unser Vater. Bald darauf wurden einige Familienangehörige krank, teils schwer. Keine Medizin half. Unser kleines Boot, mit dem wir zum Fischen fahren, wurde stark beschädigt. Meine Schwester und meine Mutter hatten Albträume. Vater erschien ihnen und rief ihnen wie aus weiter Ferne etwas zu, was sie nicht verstanden. Eines Tages gestand dann unser Onkel, nach Vaters Tod eine nicht unerhebliche Summe in US-Dollar in Vaters Sachen gefunden zu haben. Er behielt das Geld, ohne uns etwas zu sagen.«

Für die Söhne und die Witwe des Verstorbenen gab es keinen Zweifel. Der Aku Aku des Verstorbenen war empört, weil sein Bruder Geld, das unter  seinen Erben aufzuteilen war, unterschlagen hatte. Der Bruder des Toten verteilte das Geld, jeder bekam seinen gerechten Erbteil. Der Bruder des Toten selbst verzichtete. Vom Erbe ließen die Söhne des Toten das Boot reparieren. Sie schafften einen Außenbordmotor an. Die Albträume blieben von nun an aus. Die erkrankten Familienangehörigen wurden schnell wieder gesund.

Aku Akus können erheblichen
Schaden anrichten
Foto: W-J.Langbein
Der junge Rapa Nui: »Der Aku Aku meines toten Vaters hatte erreicht, was er bewirken wollte. Sein Erbe war, so wie er das immer gewollt hatte, gerecht verteilt worden. Jetzt hatte er keine Aufgabe mehr in unserer Welt!« Seine Mutter bat den Aku Aku in die hölzerne Statue einzuziehen, die seine beiden Söhne geschnitzt hatten. Die beiden Männer trugen dann die Statue würdevoll zum Friedhof, ans Grab des Vaters.

»So konnte der Aku Aku von seinen sterblichen Überresten Abschied nehmen und unsere Insel verlassen.« Nach einer Pause fragte ich: »Und wo ist der Aku Aku ihres verstorbenen Vaters jetzt?« Der junge Rapa Nui hebt beide Arme gen Himmel. »Der Himmel ist weiter und größer als das Meer, das Pazifik genannt wird.« Er deutet in das wolkenlose Blau des Himmels, der so tief über der Osterinsel liegt. »Der Aku Aku meines toten Vaters ist frei!« Er nickt mir noch einmal zu, dann geht er in die Kirche, in der es so viele Hinweise auf den alten Glauben der Osterinsulaner gibt.

Wir rätseln über die Statuen der Osterinsel, grübeln über Transportmethoden und über Methoden, die Kolosse auf steinernen Podesten aufzustellen. Die wirklich interessanten Fragen aber werden erst gar nicht gestellt. So bleibt der wahre alte Glaube von Rapa Nui weiterhin im Dunkeln, so wie die zahllosen Familienhöhlen für Fremde nach wie vor Tabu sind.

Moderne
Osterinsel-Skulptur
Foto: W-J.Langbein
Die heutigen Rapa Nui scheinen sich verstärkt wieder der eigenen Kultur zuzuwenden. Heutige Künstler schaffen wieder steinerne Skulpturen. Uralte Motive, die vor Jahrhunderten in Reliefs verewigt wurden, tauchen wieder auf: in ausdrucksstarken, mysteriösen Bildwerken. Kennen die heutigen Künstler die wahre Bedeutung der uralten Darstellungen, die sie uns »Besuchern« verschweigen? Oder ahmen sie nur nach, was ihre Vorfahren hinterlassen haben? Ich bin davon überzeugt, dass es ein verborgenes Wissen aus uralten Zeiten auf Rapa Nui gibt, das uns Fremden vielleicht für immer verschlossen bleiben wird ...


»Von Tunneln, Höhlen und Jungfrauen«, 
Teil 191 der Serie 
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                          
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 15.09.2013


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