Samstag, 5. Mai 2012

Drei Becher Kaffee und (k)eine Zeitung

Über dreißig Jahre begann Erna L. ihren Tag mit dem gleichen Ritual, das daraus bestand, sich aus dem Bett zu schleppen, in die Küche zu schlurfen und die Kaffeemaschine anzuschmeißen. Dann kam der erste spannende Augenblick des jungen Morgens. In Morgenrock und Puschen schlurfte sie erwartungsvoll schon etwas zügiger zum Zeitungskasten, während die bange Frage: „Hoffentlich ist die Zeitung da“, ihren Kreislauf mobilisierte. Über dreißig Jahre wartete die Zeitung tatsächlich fast immer pünktlich im Kasten auf sie. Ein winziges aber wichtiges Glücksmoment für einen gelungenen Tagesanfang. Es folgte eine halbe Stunde, in der sie es sich noch einmal in ihrem Bett gemütlich machte, drei Becher Kaffee schlürfte und ihre Zeitung las. Niemals wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass es möglich sein könnte, einen Tag auf völlig andere Weise zu beginnen.

Irgendwann zog das Internet in Ernas Haushalt ein.
Sie war begeistert! Was es da alles zu lesen und zu erfahren gab! Und das rund um die Uhr und brühend heiß, noch bevor einer ihrer Nachbarn etwas von all den neuen Nachrichten auch nur ahnte. Eine Weile genoss Erna tagsüber bis in die Nacht hinein, diese Quelle brandneuer Informationen, bis ihr eines Tages bewusst wurde: Irgendetwas stimmte mit ihrem Aufstehritual nicht mehr. Rein äußerlich hatte sich nichts verändert. Noch immer pflanzte Erna sich neugierig und voller Vorfreude in ihre Kissen, bewaffnet mit Kaffee und Zeitung. Doch aus der gemütlichen halben Stunde waren nur noch wenige Minuten geworden. Was war passiert? Zeitung dünner geworden? Weniger Nachrichten drin? Nein, nichts davon. Nicht die Zeitung hatte sich verändert, sondern Ernas Art, die Zeitung zu lesen.

Tatsächlich huschte Ernas Blick nur noch über die Headlines und Fotos, las hier mal einen Artikel an und dort, doch kaum etwas von dem, was sie zu lesen bekam, war eine neue spannende Nachricht oder Info. Denn was immer sie in der Zeitung las, hatte sie bereits 20 Stunden vorher im Internet gelesen. Nicht wörtlich, aber vom Inhalt her. Keine zusätzlichen Infos zu den bereits bekannten Themen. Lustlos blätterte Erna L. die Seiten durch, etwas länger verweilte sie bei den Familienanzeigen, denn die waren bis dato noch nicht im Internet zu finden. Immer öfter legte Erna L. die Zeitung fast ungelesen zu Seite und begann frustriert ihr Tagesgeschäft. Doch es kam noch schlimmer. Mit Entsetzen registrierte Erna L., dass es Tage gab, an denen sie fast gänzlich vergaß, die Zeitung aus dem Kasten zu nehmen und stattdessen früh morgens ihren Laptop hochfuhr. Irgendwann gegen Mittag fiel ihr die Tageszeitung dann wieder ein und sie holte sie eigentlich nur aus dem Kasten, damit Platz war, für das Exemplar des nächsten Tages.

Dann kam der Tag, an dem Erna L. ihre Kontoauszüge prüfte.
Da stand es in Zahlen, das Zeitungsabonnement, das ihr so viele Jahre so viel bedeutet hatte und das ihr jetzt mehr und mehr bedeutungslos vorkam. Einige Monate noch ging es so, bis aus der einstigen spannenden Selbstverständlichkeit des morgendlichen Zeitunglesens eine Angelegenheit der Hassliebe wurde. Ihre Zeitung aus dem Kasten zu nehmen, empfand sie als das lästige Entsorgen von Altpapier, für das sie auch noch jedes Jahr viel Geld bezahlte. Wozu noch? Ihr Gewissen plagte sie ein wenig, zumal sie wusste, dass Verlage in Zeiten von E-Books, Newslettern, Social Net und kostenlosen Infoportalen im Netz, alles andere als einen einfachen Stand haben. Manch eine kämpfte bereits ums nackte Überleben, während andere schon verschwunden waren. Offensichtlich war sie nicht die Einzige, die ähnlich über den Sinn ihrer Tageszeitung in der jetzigen Form nachdachte. Den Zeitungen laufen Leser davon.

Es fiel Erna L. nicht leicht, den Tatsachen ins Auge zu sehen.
Doch ihr heimlicher Wunsch, auf die Zeitung zu verzichten, war aus dem Unterbewusstsein herausgetreten und wollte bewusst umgesetzt werden. Immerhin war das morgendliche Zeitungsritual tief in ihrem Lebenslauf verwurzelt, hatten es die Eltern doch schon vorgemacht. Ein Leben ohne Tageszeitung kannte sie bis dahin nicht. Doch jetzt wollte sie es kennenlernen. Erna L. kündigte ihr Zeitungsabonnement. Ein wenig kam sie sich dabei vor, wie eine Abtrünnige. Aber manchmal muss man seine Prinzipien überdenken und sein Handeln korrigieren.


Zwei Tage später, Erna lag gut gelaunt in der Hängematte ihrer Terrasse und genoss die warme Abendsonne, kam ein Anruf eines Mitarbeiters ihrer Tageszeitung.

„Guten Abend, Sie haben Ihr Zeitungsabonnement gekündigt?“

„Ja, woher wissen Sie das?“

„Ihre Kündigung liegt hier vor mir.“

„Ach so, dann war das keine Frage?“

„Nein, wir würden gern wissen, ob wir etwas falsch gemacht haben oder ob es einen anderen Grund für die Kündigung gibt.“

„Nein, Sie haben nichts falsch gemacht. Ich möchte einfach nur keine Zeitung mehr bekommen.“

„Dafür wird es aber doch einen Grund geben?“

„Ja, natürlich. Sehen Sie, 80 % von dem, was ich morgens in einer gedruckten Tageszeitung lese, das habe ich 20 Stunden vorher schon im Netz gelesen. Für den Sportteil interessiere ich mich nicht sonderlich und das Einzige, was dann noch bleibt, sind die Veranstaltungstermine, die auch überall im Netz zu finden sind und die Familienanzeigen. Dafür lohnt es sich einfach nicht, zumal ich die meisten der Namen in den privaten Annoncen nicht kenne. Ich vermute, dass auch die Infos über Geburten, Verlobungen, Hochzeiten, Scheidungen, Scheidungen und Mord in Ostfriesland
schon bald online abrufbar sein werden, ähnlich wie es jetzt schon virtuelle Friedhöfe mit Todesanzeigen gibt.“

„So, hmm, aber was Sie im Netz an Nachrichten finden, das sind doch Informationen aus China oder Australien, aber doch nicht aus unserer Stadt, die Lokalpolitik, das Tagesgeschehen und so weiter!“

„Nein, da sind Sie schlecht informiert. Was immer in unserer Stadt geschieht, verbreitet sich in Windeseile z. B. auf Facebook, Twitter und anderen Netzwerken. Noch dazu undiktiert und in einer breiten Vielfalt coloriert, die zum Selberdenken zwingt, Sie verstehen? So schnell kann Ihr Drucker die Maschine gar nicht anwerfen, geschweige denn, könnten Sie einen aktuellen Artikel in gedruckter Form unter das Volk bringen.“

„Sie können auch gern einfach pausieren, Sie müssen nicht gleich kündigen. Machen Sie doch einfach eine Zeitungspause, solange wie Sie möchten. Wir richten uns da ganz nach Ihnen.“

Erna schmunzelte. „Nein, ich möchte keine Pause machen, wir lassen es bei der Kündigung. Ich kann ja jederzeit wieder neu bestellen, falls ich Entzugserscheinungen habe, oder?"

„Ja, natürlich, aber einfacher wäre eine Pause ...“

„Nein, für mich nicht.“

„Haben Sie sich das wirklich gut überlegt? Erinnern Sie sich doch einmal an einen der wenigen Tage, an dem die Zeitung nicht pünktlich kam, wissen Sie noch, was das für ein Gefühl für Sie war?“

„Oh, ja, das weiß ich noch sehr gut! Es war furchtbar, der ganze Tag war ruiniert!“

„Sehen Sie, dann wissen Sie doch, wie es sein wird.“

Fast sah Erna, wie ihr Anrufer einen lächelnden Zug um den Mund bekam, der Klang seiner Stimme verriet es ihr.
„Nein, das weiß ich nicht, denn damals traf mich die Situation völlig unvorbereitet, während ich dieses Mal vorbereitet bin und Zeit habe, mein Morgenritual zu ändern.“

Jetzt lächelte Erna auch.

„Wie kann ich Sie denn nur umstimmen? Wie wäre es mit einer Pause und einem Treuebonus von 50 €? Sie sind schließlich schon sehr lange Abonnent, das kann man ja auch mal belohnen.“

„Treuebonus klingt gut, aber ich möchte lieber kündigen.“ Erna lachte.

„Meinetwegen können Sie auch einen Blick in unser Prämienangebot werfen, ich gebe gern noch ‘ne Kaffeemaschine und einen Toaster obendrauf!“

Erna hatte das Gefühl, dass die Verzweiflung eines Fischmarkthändlers durch den Hörer tropfte. Vor ihrem inneren Auge sah sie auf der anderen Seite der Leitung einen verzweifelten Mann auf Knien sitzen, schweißgebadet, der ihr flehend einen Toaster mit der rechten Hand und eine Kaffeemaschine mit der linken Hand entgegenstreckte, während zwischen seinen Zähnen ein Fünfziger hing, den er mit nickendem Kopf zum Wippen brachte.

„Hmmm. Einen Toaster könnte ich grad jetzt gut gebrauchen ...“, murmelte Erna.

„Na, sehen Sie ...“

„... aber keine Zeitung.“

Vor Ernas innerem Auge brach auf der anderen Seite ein Mann zusammen. Er tat ihr leid. Doch was sollte sie machen? Sie war ehrlich. Sie wollte keine Zeitung für 300 Euro im Jahr, in der es fast nichts Neues zu lesen gab, zumal sie sich einen Toaster für 20 € auch selber kaufen konnte. Erst recht, wenn sie demnächst 300 € Bargeld im Jahr zusätzlich zur Verfügung haben würde.

„Sehen Sie, junger Mann, ich verstehe ja, dass meine Kündigung nicht schön für Ihre Zeitung ist. Aber die Dinge sind, wie sie sind. Die technische Entwicklung nimmt auf Einzelschicksale keine Rücksicht, während sie die Zukunft gestaltet, und ich kann mir das auch nicht leisten. Ich weiß, wovon ich rede, auch ich habe einst einen Beruf erlernt, den es heute gar nicht mehr gibt! Aber seien Sie gewiss: Wo eine Tür sich schließt, öffnen sich drei andere. Und wenn ich eines Tages feststelle, dass ich ohne Tageszeitung nicht lebensfähig bin, dann werde ich mich sofort bei Ihnen melden, versprochen! Alles Gute für Sie, auf Wiederhören!“

Erna L. legte den Hörer zurück in die Station, ging nachdenklich einige Schritte durch ihren Garten und musste wehmütig seufzend zugeben: Eine Tageszeitung am Morgen zu lesen, hat einen ganz eigenen, einzigartigen Charme. Doch genau dieser Charme fehlt, wenn man vorher weiß, was drin stehen wird.

Schade. Ja wirklich, es ist schade um jede Tageszeitung die in Zukunft nicht mehr geschrieben, gedruckt und gelesen wird. Aber das ist der Lauf der Dinge, jede große Revolution hinterlässt Scherben.

© gcsöcker alias gcroth 2012



Bücher von gcroth

Fluffige und andere Zeiten
Heitere und besinnliche Kurzgeschichten, Fabeln und Gedichte




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Mord im ostfriesischen Hammrich: Tödliches Wiedersehen





"Bestatten, mein Name ist Tod!"  
Friedhofsgeschichten aus dem Leben gerissen






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