Sonntag, 16. Februar 2014

213 »Phallus und Göttin«

Teil 213 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Landkarte mit Hinweis auf Chucuito
(wiki commons/ gemeinfrei)




Von Puno bis Chucuito sind es nur 18 Kilometer. Ich legte die kurze Strecke in einem Taxi zurück. Die Fahrt war atemberaubend, weniger wegen der schönen Landschaft, sondern wegen des Fahrstils meines Chauffeurs. Der versuchte offenbar, einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufzustellen. Der Mann könnte ohne Probleme gefährliche Stunts in einem Film übernehmen. Meine Empfehlung: Entweder mit dem Bus fahren, das schont Nerven und ist sehr viel sicherer. Oder man bietet dem Taxifahrer den doppelten Fahrpreis an, wenn er auf riskante Manöver verzichtet ...

Chucuito, am Titicacasee gelegen, hat eine glanzvolle Vergangenheit. Es war einst eine Metropole der Inka und der Lupaca.  Auch die Spanier maßen dem uralten Ort große Bedeutung zu. Chucuito blieb die Hauptstadt der Region. Die Spanier bauten imposante Kirchen im kleinen Fischerdorf: »Iglesia de Nuestra Senora de la Asuncion« und »Iglesia Santo Domingo«. Wer auch immer in den Gotteshäusern predigt, wettert gewöhnlich gegen das »Sodom und Gomorrha« von Chucuito ...

(Die Maria von Chucuito. Foto Wiki commons, Foto Leon Petrosyan)


Der Stein des Anstoßes ist eher unscheinbar, heute zumindest ... »Inca Uyo«. Leicht übersieht man die Mauer aus glatt polierten Steinen. Das steinerne Geviert hat – ich habe selbst ein Maßband angelegt – eine Länge von zwanzig und eine Breite von zehn Metern. Und doch muss dieses kleine Mauerwerk vor rund einem halben Jahrtausend für Nachkommen der Inkas und Lupacas immer noch so wichtig gewesen sein, dass die Spanier es nicht abzureißen wagten.

(Der Verfasser wird von jungen Verkäufern bestürmt.
Foto Ingeborg Diekmann)

Ich erinnere mich an meinen Besuch im »Inca Uyo«-Tempel. Zwei kleine Kinder boten mir und meinen Begleitern kleine gestrickte Fingerpuppen an. Zunächst wollten sie pro Fingerpuppe einen Dollar kassieren. Ich zögerte, und schon sank der Preis auf die Hälfte. Ich zückte schon meinen Geldbeutel, um einige der kleinen innig fein gestrickten Minitierchen zu  erwerben, da strömten schon die nächsten kleinen Händler ins Tempelareal. Sie boten zehn Püppchen für einen Dollar. Der Preis erschien mir als zu niedrig für die wirklich schönen kleinen Kunstwerke aus bunter Wolle. Also machte ich ein Angebt: Fünf Minifingerpüppchen für zwei Dollar.

Kaum stand mein Angebot, war ich von Kindern unterschiedlichster Größe umringt, die mir alle schreiend und lachend ihre Ware anboten ... Fingerpüppchen in Gestalt von Löwen, Schildkröten, Hühnern, Affen, Pferden. Ich glaube, ich habe die Produktion von Wochen, wenn nicht gar Monaten aufgekauft ... Der Handel blühte an jenem Tag im Areal des »Inca Uyo«-Tempels. Warum wird der kleine »Hof« im Mauerwerk von der christlichen Geistlichkeit als ein »Sodom und Gomorrha« verabscheut? Es sind die Phallusse unterschiedlicher Größen, die wie Steinpilze aus dem Boden wachsen.

(Phallusse in allen Größen ...
Foto: Walter-Jörg Langbein)
»Diese unzüchtigen Steine müssen zerschlagen werden!«, hatte ein Professor vom Fachbereich »Altes Testament« gewettert, als wir bei meinen Vorbereitungen für den Besuch in Chucuito auf den geheimnisvollen »Inka-Tempel« zu sprechen kamen. »Dort wird das männliche Genital in unziemlicher Weise dargestellt! Zerschlagen müsste man diese Obszönitäten!« Rechts und links vom schmalen Eingang des Mauerwerks steht je ein steinerner Phallus. Mich erinnern sie an die beiden Säulen »Jachin« und »Boas« am Eingangstor zum Tempel von Jerusalem (1).

Aber sind die steinernen Phalli wirklich Obszönitäten, wie der gelehrte Theologe evangelisch-lutherischen Glaubens meinte? Die vielleicht ältesten »Phalli« gehörten im »Alten Indien« zu den heiligsten Symbolen. Eine uralte Überlieferung erklärt ihre wahre Bedeutung:

Im »Alten Indien« stritten sich einst die Götter, wer von ihnen denn der Höchste sei. Sie konnten sich nicht einigen. Da tauchte gerade noch rechtzeitig am Himmel eine riesige Feuersäule auf. Die war so riesig, dass selbst Gott Brahma nicht an ihr oberes Ende fliegen konnte. Und Gott Vishnu gelang es nicht,  bis zum unteren Ende vorzudringen. Das obere Ende ragte weit in den Himmel, das untere Ende weit in die unergründlichen Tiefen des Meeres.

Schließlich öffnete sich die Feuersäule ... und in ihr erschien Gott Shiva, der Höchste aller Götter. Die Feuersäule Shivas, so heißt es, war die Urform des altindischen Linga(m). Bis heute wird er in Stein und Holz nachgebildet und nach wie vor vordergründig sexistisch missverstanden. Dabei kennen wir Gott Shiva unter anderem Namen aus dem »Alten Testament« ....

Auch wenn es bibelfromme Christen abstreiten, so kennen wir Shivas »Lingam« aus der Bibel. Gott Shiva erschien in der Feuersäule, der biblische Gott Jahwe erschien in der Feuersäule (2): »Und Jahwe zog vor ihnen her … des Nachts in einer Feuersäule.« Wie sich doch die Bilder gleichen!


(Foto: Walter-Jörg Langbein. Aufgenommen in Konarak, Indien)

Scheinbar »erotische« Darstellungen in alten indischen Tempeln wurden von Missionaren vor Jahrhunderten als »sündhaft unsittlich« gesehen. Es gab Überlegungen, die Kunstwerke zu zerstören, was aber zum Glück unterblieb. Wenn sich Göttinnen und Götter vereinen, steht dies für etwas Heiliges. Es geht nicht um akrobatischen Sex, sondern um das Miteinander der Kräfte, um den ewigen Kreislauf des Lebens.

Betrachtet man die »Phalli« von Chucuito genauer, so stellt man fest, dass es zwei »Modelle« gibt. Die einen stehen in steinerner Pracht da. Die anderen wurden mit der Spitze nach unten eingegraben. Warum? Die Spitze der einen weist ins Erdinnere, ins Reich der Pacha Mama. Die Spitze der anderen verbindet die Erde mit dem himmlischen Reich des Sonnengottes Inti. Wie sich doch die Bilder gleichen! Der Linga(m) Shivas reichte aus den Tiefen des Meeres in den Himmel. Die »Phalli« von Chucuito verbinden das Reich der Muttergöttin mit den Gefilden des männlichen Sonnengottes!

Im »Heiligen Land« der Bibel war Jahwe keineswegs immer der einsame, alleinige Gott. Ihm zur Seite stand eine Göttin aus vorbiblischen Zeiten, Ascherah genannt. Über viele Jahrhunderte war die Göttin im Allerheiligsten des Tempels präsent. Je mehr Anerkennung Jahwe im Verlauf der Jahrhunderte als der Gott des »Heiligen Landes« zuteil wurde, desto heftiger wurde Göttin Ascherah bekämpft. So lesen wir im 5. Buch Mose (3): »Du sollst dir keinen Holzpfahl als Ascherahbild errichten bei dem Altar Jahwes.«

Barbara Walker bringt es in ihrem viel beachteten Lexikon auf den Punkt (4): »Eine Zeit lang akzeptierte Ascherah den semitischen Gott El als ihren Geliebten. Sie war die Himmelskuh, er der Stier.« El war, was gern verdrängt wird, einer der vielen Beinamen des biblischen Jahwe. Kurios: Während sonst die »Säule« Symbol des männlichen Gottes ist, steht im Allerheiligsten von Jahwes Tempel der »Pfahl« für die Göttin.

Ascherah war dem bekanntesten Bibelübersetzer Martin Luther ein Dorn im Auge, so dass er den Namen »Ascherah« aus der Bibel verschwinden ließ. In den meisten neueren Übersetzungen aber ist Ascherah wieder an die Seite Jahwes zurück gekehrt. (5)

(Einige der Phallusse im Tempel.
Foto Leon Petrosyan. Wiki commons, gemeinfrei)

Inzwischen weiß man, dass die Mauern von Chucuito astronomische Bedeutung hatten.Verbindet man die beiden gegenüberliegenden Ecken mit dem schmalen Eingang im Steingeviert, dann bilden eben diese beiden gegenüberliegenden Ecken mit dem Eingang den exakten Schnittpunkt der Nord-Süd und Ost-West-Achse. Deshalb wird vermutet, dass »Inca Uyo« zur astronomischen Beobachtung diente (6).

20 mal 10 Meter misst das Mauergeviert von Chucuito. War es einst Teil eines weitaus größeren Komplexes? Ein Archäologe erklärte mir vor Ort, der »Phallus-Tempel« sei das zentrale Kernstück einer sakral-astronomischen Anlage gewesen. Man habe Sonne, Mond und Sterne beobachtet, wie die Mayas auf ihren Pyramiden und die Wissenden Indiens. Wie auch immer: Mit schmuddeligem Sex hat Chucuito ebenso wenig zu tun wie Shivas Linga(m) und Jahwes »Feuersäule«. Es geht um die Verbindung zwischen unten und oben, zwischen Himmel und Erde. Von einem »Fruchtbarkeitskult« ist immer wieder die Rede, wenn es um Chucuito geht.

Schon die ersten Missionare erkannten, wie wichtig den Menschen der Anden die »Heilige Mutter« war. Sie setzten Maria mit der alten Göttin gleich, was von den Inkas und ihren Nachfahren akzeptiert wurde. Was die Menschen – nicht nur in Peru – nicht verstanden, das war das Verbot, auch weiterhin zu Pacha Mama zu beten, ihr weiter zu huldigen. Dieses häufig mit grausamer Gewalt propagierte Verbot wurde nur oberflächlich befolgt.

Maria von Guadalupe.
Foto W-J.Langbein
Sowohl bei den Mayas als auch bei den Inkas ersetzte nach der Christianisierung Maria heidnische Göttinnen. Eines der wichtigsten Marienheiligtümer der Welt finden wir in Guadalupe, Mexico. Wo heute öffentlich Maria verehrt wird, wird auch heute noch zur Aztekengöttin Tonantzin gebetet. Und aus Pacha Mama wurde offiziell Maria, auch wenn heute noch Pacha Mama verehrt wird, gleichberechtigt mit Maria.

Pacha Mama war die personifizierte Mutter Erde, ihr Name lässt sich mit »Mutter Welt«, auch »Mutter Kosmos« übersetzen. War? 2008 wurde Pacha Mama in die Verfassung Ecuadors aufgenommen, als Prinzip »Leben im Einklang mit der Natur«.









Fußnoten
(1) Siehe 1. Buch der Könige Kapitel 7, Verse 13-22
(2) 2. Buch Mose Kapitel 13, Vers 21
(3) 5. Buch Mose Kapitel 16, Vers 21
(4) Walker, Barbara: »Das Geheime Wissen der Frauen«, Frankfurt 1993, S. 67
(5) Langbein, Walter-Jörg: »Lexikon der biblischen Irrtümer«, München 2003, siehe Kapitel »Ascherah: Rückkehr einer Göttin«, S. 16-21!
(6) Schmidt, Kai Ferreira: »Peru Bolivien/ Handbuch für individuelles Reisen und Entdecken«, 2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Markgrönnigen 6/ 2000, S. 381

214. Vögel, Mythen, Fabelwesen
Teil 214 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                                                                                              
erscheint am 23.02.2014

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