Sonntag, 6. Juli 2014

233 »Riesen, Pyramiden, Menschenfresser«

Teil 233 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Gestürzter Koloss, zerbrochener Koloss
Foto W-J.Langbein

Die von der Osterinsel bekannten Fotos und Filme zeigen die mysteriösen Kolosse auf ihren Podesten stehend, mit rötlichen Steinzylindern auf dem stolz erhobenen Kopf. Was kaum bekannt ist: In diesem Zustand befinden sich nur wenige Statuen, die erst im 20. Jahrhundert mit heutiger Technik (Einsatz eines aus Japan herangeschafften Krans usw.) wieder aufgerichtet worden sind. Die überwiegende Zahl der Kolosse, die einst auf einem »Ahu« standen, wurden zu Fall gebracht und liegen nach wie vor am Boden. Die meisten der schweren Kolosse haben den Fall nicht überlebt und sind meist mehrfach zerbrochen. Fast immer brach im wahrsten Sinne des Wortes das Genick. Durch Witterungseinflüsse sind manche der einst so präzisen Steinmetzarbeiten kaum noch als künstlich geschaffene Figuren zu erkennen. Am besten erhalten sind die Statuen, die sich noch im Steinbruch befinden, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht fertig gestellt wurden. Andere Statuen blieben beim Transport vom Steinbruch an den Bestimmungsort einfach liegen. Wieder andere wurden halb oder bis zum Kopf eingegraben.

Koloss mit magischen Augen
Foto W-J.Langbein

Die Augenhöhlen der »moai paea« blieben beim Transport leer. Erst wenn sie auf ihren Podesten standen, wurden ihnen weiße Augäpfel aus Koralle und Pupillen aus Vulkangestein eingesetzt. Das soll magisch-rituelle Bedeutung gehabt haben. »Sobald die moai Augen hatten, konnten sie sehen. Dann konnten verstorbene Könige oder wichtige Ahnen aus dem Geisterreich in die Figuren schlüpfen und das Leben auf ihrer Heimatinsel beobachten!«, erklärte mir Carolina Teao (6) nach einem sonntäglichen Gottesdienstbesuch. Die Osterinsulanerin beteuerte flüsternd: »Die moai standen auf Pyramiden aus Stein. In den Pyramiden waren Grabkammern, in denen die Toten ruhten. Die Geister der Toten können in die Statuen fahren, solange die Statuen intakt sind!«

Dass den Statuen einst Augen eingesetzt worden sind, wurde erst 1978 entdeckt, als der »Ahu Nau Nau« restauriert wurde. Dabei wurde ein zersplittertes Riesenauge – Länge des Ovals immerhin 35 Zentimeter – entdeckt.
Die Osterinselforscherin Catherine Routledge berichtete (1) bereits 1919 in ihrem Standardwerk »The Mystery of Easter Island« von »semi-pyramidal Ahus«. Unklar ist, welche »Ahu«-Form die älteste ist. Allem Anschein nach gab es in ältesten Zeiten primitive »Steinpyramiden«, kegelförmige Anhäufungen von Steinbrocken. Angeblich soll es auch mehrstufige Plattformen gegeben haben, auf denen Statuen standen, mit Grabkammern in den Plattformen. Andere »Ahus« sollen der Form nach Schiffen geähnelt haben.
Fundament eines uralten Bauwerks in Bootsform
Foto W-J.Langbein

Im 18. Jahrhundert sah Captain Cook eine »steinerne Plattform«, auf der unter Steinen ein menschliches Skelett lag. Unklar ist, ob man die sterblichen Überreste dort platziert hatte, damit die Verwesung fortschreiten konnte, oder ob Cook ein verfallenes »Ahi«-Grab beschrieb. Sollten also die Knochen da liegen? Oder kamen sie zum Vorschein, weil der »Ahu« nur noch eine Ruine war? Der Seefahrer La Pérouse besuchte ebenfalls im 18. Jahrhundert die Osterinsel. Er beobachtete und beschrieb »mehrere Pyramiden von Stein«, in deren Nähe Knochen verstreut lagen. War ein Grab geplündert worden? Hatte ein feindlicher Clan in der Gruft nach Grabbeigaben wie geschnitzten Angelhaken gesucht? Ein Geistlicher erklärte mir vor Ort: »Wirklich wichtig war für die Insulaner nur der Schädel, der Rest des Skeletts wurde oft recht pietätlos behandelt!« (2)
Solange Tote – sei es auf Holzgestellen, sei es auf steinernen Plattformen oder Pyramiden – aufgebahrt wurden, lag ein »Tapu« auf dem Grundstück. So durfte am nahegelegenen Strand nicht gefischt werden. Gekocht werden durfte auch nur bedingt im Bereich des Toten. Es bedarf keiner Fantasie, um sich vorzustellen, dass so ein offen aufgebahrter Leichnam nicht gerade ein ideales Ambiente für leckere Kocherei geboten hat. Offene Feuer im Umfeld des Toten unterlagen auch einem »Tapu« waren also auch verboten. Bei Tageslicht durfte man sich dem Toten nicht nähern, aber in der Nacht? Ein Steinhaufen mit einem weißen Stein an der Spitze zeigte wie ein Hinweisschild das »Tapu« an. Wer dagegen verstieß, wer die »Tapu«-Gebote nicht einhielt, der war des Todes und wurde mit einer Keule erschlagen. Da auf der Osterinsel lange Zeit Kannibalismus weit verbreitet war, kann es sein, dass so ein »Tapu«-Übertreter bald den Speisenplan bereicherte.
Was die Ernährung angeht, so waren Frauen nicht gleichberechtigt. Frauen mussten ihren Vater, Ehemann oder einen Bruder fragen, wenn sie Geflügel verzehren wollten. Beim Kannibalismus allerdings gab es für Frauen kein »Tapu«. Warum auch. Offenbar kämpften Frauen wie Männer in Kriegen Seite an Seite und teilten sich dann auch die Beute. Dazu gehörte eben auch das Fleisch der getöteten Feinde. Anlässe für Kriege gab es viele. Nach einem Mord an einem Osterinsulaner wurde der Täter ermittelt. Die Angehörigen des Stamms des Opfers erklärten dann dem Stamm des Mörders den Krieg. Und der endete mit dem Tod des Mörders. Anschließend feierten die Sieger bei einem Bankett… und verzehrten den Mörder. Damit hatte das Blutvergießen aber kein Ende. Denn jetzt sannen die Verwandten und Stammesangehörigen des Mörders nach Rache. Das Gemetzel wurde fortgesetzt.

Man zeigte mir im kleinen Osterinselmuseum eine Lithographie aus dem späten (?) 19. Jahrhundert. Sie stellt eine der »semi-pyramidalen« Strukturen dar. Offenbar schichtete man mehrere, nach oben hin kleiner werdende Plattformen aufeinander, so dass eine Art Stufenpyramide entstand. Auf der Lithographie sind zwei halbwegs korrekt dargestellte »moai« mit Steinhüten zu sehen. Allerdings wurden diese Wahrzeichen der Osterinsel – anders als im Bild gezeigt - stets auf die höchste Plattform gestellt.

Pyramidenartige Plattform ... Foto Archiv W-J.Langbein

Im Jahre 1864, so viel scheint sicher, waren alle Statuen von den »Begräbnisplattformen« gestürzt worden. Anno 1838 soll Admiral du Petit-Thouars noch einen der Osterinselkolosse auf einem Ahu stehend gesehen haben. Alfred Metraux geht nach Quellenlage davon aus, dass zwischen 1838 und 1864 die letzten Statuen gefallen sein müssen. Die »semi pyramidal Ahus« verfielen nach und nach oder wurden mutwillig zerstört. Ahus wurden aber auch in neuerer Zeit von Chilenen verwüstet (3). Zerstört worden ist alter Volksglaube der Osterinsulaner – durch christliche Missionare. Einzig der wichtigste Gott der Osterinsel, Make-Make, überdauerte die Zeiten. Seine »Kolleginnen und Kollegen« gerieten weitestgehend in Vergessenheit.
Die Osterinsulaner wurden bewusst ihrer religiösen und heimatlichen Wurzeln beraubt. Man vertrieb sie von ihren angestammten Wohngebieten und zwang sie in ein Dorf. Zeitweise waren sie wie Gefangene, die Dorf nur mit Genehmigung verlassen durften. Das importierte Vieh hatte mehr Rechte als die Osterinsulaner!

Die Osterinsel ist weniger christlich als man denkt.
Foto W-J.Langbein

Als die ersten christlichen Kreuze aufgestellt wurden, wunderten sich die Insulaner sehr. Wieso hing da ihr Make-Make am Kreuz? Als ihnen der biblische Gott als der einzige Gott angepriesen wurde, gab es für die Insulaner keinen Zweifel mehr! Wenn der Bibel-Gott der mächtigste Gott war, dann musste er ihr Make-Make sein. So opferten die Insulaner dem Bibel-Gott, wie sie das bislang für Make-Make getan hatten. Dass de facto ein heidnischer Gott nach alter Väter Sitte verehrt und mit Opfergaben beschenkt wurde, nahm die christliche Geistlichkeit – grummelnd vielleicht – hin. Es war alles gut, solang die Osterinsel offiziell in den amtlichen Statistiken als »Katholiken« geführt werden konnten. Solange durften auch heidnische Darstellungen in der christlichen Kirche in christlichem Gewand die einheimischen Gläubigen anlocken.
Make-Make wurde in alten Überlieferungen auch als zorniger, eifersüchtiger Gott beschrieben, so wie Jahwe im »Alten Testament« der Bibel. Weinend erklärte mir eine greise Osterinsulanerin, Make-Make, Make-Make fresse die Seelen von Toten. »Deshalb wurden die Statuen auf die Gräber gestellt! Sie boten den Geistern der Verstorbenen Schutz vor dem strafenden Make-Make!«

Mischwesen ... Mensch und Eidechse
Foto W-J.Langbein

Make-Make war der große Schöpfergott. Er kreierte Menschen, aber auch ein Mischwesen, einen Gott-Mensch-Vogel. War er auch für seltsame Kreaturen verantwortlich, deren Abbilder auf alten Holzschnitzereien der Osterinsel erhalten geblieben sind? 1992 erwarb ich auf der Osterinsel die Kopie einer Gravur, die einen Eidechsen-Menschen zeigt. Das Wesen nimmt die typische Haltung einer Eidechse ein, hat eidechsenhafte Klauen als Greifinstrumente und einen Schwanz, gleichzeitig aber auch menschliche Attribute. Derlei monströs anmutende Mischwesen zierten häufig kunstvolles Schnitzwerk. Sie wurden vorwiegend am Kopf von hölzernen Statuetten eingeritzt. Waren es Kreaturen aus der »Werkstatt« von Make-Make?
Make-Make soll – auch – ein Seelenfresser gewesen sein. Manche Osterinsulaner sehen das heute positiv. So schützte Make-Make seine Gläubigen vor Angriffen durch bösartige Geister, die womöglich schon zu Lebzeiten Verbrecher gewesen waren. Mord- und Totschlag galten auch auf der Osterinsel als schlimme Untaten, Kannibalismus aber scheint eine akzeptierte Form der Ernährung gewesen zu sein (4). Nach Osterinselforscher Hippolyte Roussel waren es erst christliche Missionare, die diesen alten, unsäglichen Brauch verboten haben. Es wird überliefert, dass Krieger »Kai-tangatas« (Kannibalen) waren. Getötete Feinde, so heißt es, wurden verspeist. Gefangene, so wird berichtet, wurden in speziellen Hüten verwahrt und im Rahmen von Siegesfeiern im Angesicht der stolzen Riesenstatuen verzehrt. Kapitänleutnant Geiseler beschreibt (5) in seinem Buch »Die Oster-Insel«, anno 1883 in Berlin erschienen, dass Kriegsgefangene für »besondere Anlässe« aufgespart und dann zu Ehren der Götter getötet und verzehrt wurden!
Kriege zwischen einzelnen Stämmen gab es im Lauf der Geschichte auf der Osterinsel immer wieder. So soll nach langem Gemetzel der Tuu-Clan als Sieger in den heimischen Bezirk auf dem Eiland zurückgekehrt sein. Die Tuu-Krieger haben, so ist überliefert, ihre besiegten Gegner, die Hotu-iti, regelmäßig überfallen. Sie schleppten die getöteten Feinde zum Strand und transportierten sie in ihren Kanus nach Hause. Die Leichname wurden unter den Kriegern verteilt… und verzehrt. Im Gegenzug belagerten die Hoto-iti die Tuu in ihren Höhlen, hungerten sie aus. Die Tuu mussten sich ergeben… und einige von ihnen wurden verzehrt. (8)

In Höhlen wie dieser wurde Kannibalismus zelebriert.
Foto Ingeborg Diekmann

Zu kannibalistischen Exzessen soll es häufig in Höhlen gekommen sein. Dort, unter der Erde, verspeisten siegreiche Krieger ihre erschlagenen Feinde. Es heißt, sie glaubten auf diese Weise noch stärker zu werden, weil sie die Energie der Toten in sich aufnahmen. Auch sollte so den Gefallenen in gewisser Weise ein »Weiterleben« ermöglicht werden…Womöglich konnten sie dann auch als Geister ihren Mördern nicht mehr schaden.
Fritz Felbermayer überliefert eine ausführliche Legende zum Thema Kannibalismus, betitelt »Der große Krieg zwischen den Stämmen der ›Miru‹ und ›Tapahotu‹« (6). In der Einleitung lesen wir (7): »Die mächtigen Stämme nützten die Kriege, um sich mit Menschenfleisch zu versehen, denn in den vergangenen Zeiten herrschte Kannibalismus unter den Bewohnern der Insel. Die Stärkeren suchten jedwelchen Vorwand, um Konflikte mit den kleineren Stämmen herbeizuführen und so in Kämpfen zu dem von ihnen begehrten Fleischgenuß zu kommen.«

Fußnoten
1) Routledge, Catherine S.: »The Mystery of Easter Island«, London 1919, S. 172

2) Métraux, Alfred: Ethnology of Easter Island, Honolulu, Hawaii, 1971, S. 115, siehe »Funeral Rites«!

3) ebenda, siehe S. 86-88, »Destruction of the Images«

4) ebenda, siehe S. 150 und 151: »Cannibalism«

5) Geiseler, Kapitänleutnant: »Die Osterinsel«, Berlin 1883, S. 30

6) Felbermayer, Fritz: »Sagen und Überlieferungen der Osterinsel«, Nürnberg 1971, Seiten 51-63

7) ebenda, S. 51, linke Spalte, Zeilen 6-12 (Orthographie unverändert übernommen!)

8) Auch diese Geschichte wird in unterschiedlichen Varianten erzählt. Mal gehen die einen, mal die anderen als Sieger hervor. Zu Kannibalismus aber kam es in allen Versionen.


»Alte Götter, neue Götter, tote Götter…«,
Teil 234 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                        
erscheint am 13.7.2014




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