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Sonntag, 26. Februar 2017

371 »Von Monstern und Götterwagen«

Teil  371 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein

Foto 1: Das Münster um 1926
Wir haben gründlich die fischschwänzige »Monsterfamilie« studiert. Direkt daneben wurde vor etwa einem Jahrtausend ein Szenario wie aus einem Fantasy-Film unserer Tage in den Stein geritzt: Da kämpfen Fabelwesen! Ich muss noch einmal Eusebius zitieren, der ganz ähnliche Monster beschrieben hat:

»Menschen mit Schenkeln von Ziegen und Hörnern am Kopfe, noch andere, pferdefüßige, und andere von Pferdegestalt an der Hinterseite und Menschengestalt an der Vorderseite. Erzeugt hätten sie (die Götter) auch Stiere, menschenköpfige, und Hunde, vierleibige, deren Schweife nach Art der Fischschwänze rückseits an den Hinterteilen hervorliefen, auch Pferde mit Hundeköpfen...sowie andere Ungeheuer, pferdeköpfige und menschenleibige und nach Art der Fische beschwänzte, dazu weiter auch allerlei drachenförmige Unwesen und Fische und Reptilien und Schlangen und eine Menge von Wunderwesen, mannigfaltig gearteten und untereinander verschieden geformten.«

Es ist endlich an der Zeit, dass ein Katalog erstellt wird mit all‘ den Kreaturen, den Monstern, die immer wieder weltweit dargestellt wurden! Man möchte gern diese Horrorkreationen ins Reich der Märchen verbannen, möchte hoffen, dass es sie nie gegeben hat...doch in fast allen Museen der Erde finden sich Abbildungen, präzise Darstellungen jener Wesen. So werden im französischen Louvre Miniaturen aufbewahrt, etwa 4200 Jahre alt, die menschenköpfige Stiere darstellen.

Im Eingangsbereich des Ägyptischen Museums von Kairo sah ich in einer Glasvitrine das in Stein gearbeitete Halbrelief fremdartiger Monster. Ihre Leiber erinnern an Pferde , sie haben Löwenfüße, auf unnatürlich langen Hälsen sitzen verhältnismäßig kleine Köpfe, die an Löwenhäupter erinnern. Angriffslustig stehen die beiden Wesen einander gegenüber, scheinen gleich einander angreifen zu wollen. Noch hindern sie kleine, sehr naturgetreu dargestellte Wesen daran, zerren an Stricken...

Monstermischwesen sind auch auf der Osterinsel dargestellt, und zwar in Halbreliefs in Stein, halb Vogel, halb Mensch. Und Monsterwesen wurden vor fast einem Jahrtausend in den Eingang zur einstigen Nikolauskapelle eingearbeitet. Wurden diese rätselhaften Kunstwerke eigenes für das Freiburger Münster gefertigt? Oder wurden sie von einem älteren Bauwerk – etwa einem Tempel – übernommen? Detlef Zinke schreibt in seinem Beitrag zum opulenten Band »Das Freiburger Münster« (1):

Fotos 2-4:  Links die Monsterfamilie, rechts Duellanten

»Dass der aktuelle Versatz der Werkstücke kaum der ursprünglich beabsichtigte ist und einiges wohl erst baulich passend gemacht werden musste – unmotiviert erscheinende Schnittkanten sprächen dafür -, dürfte ohnehin ein übergreifendes Verständnis erschweren.« Wurden also die rätselhaften Reliefs tatsächlich aus einem älteren Bauwerk übernommen und für den Eingang zur einstigen Nikolauskapelle erst passend gemacht? In Südamerika hat man häufig erstaunlich präzise zugeschnittene Steine aus Inkatempeln in christliche Kirchen eingebaut. Auch hier fehlt ein wissenschaftlicher Katalog mit präzisen Auflistungen, in welchen christlichen Kirchen (etwa in Peru!) wo wie viel Inka-Mauerwerk eingebaut wurde. Die Inkas haben ihrerseits ältere Bausubstanz übernommen.

Foto 5: Die zwei Paare von Duellanten von Freiburg

Die sorgsam gearbeiteten Reliefs kommen mir jedenfalls wie Fremdkörper vor, die nicht so recht in den Kontext des Portals zur einstigen Nikolauskapelle passen. Es will mir so scheinen, als habe man diese Elemente irgendwo heraus gesägt, passend gemacht und neu eingesetzt. Glatte, flach polierte Schnittflächen könnten darauf hinweisen, dass nur Teile der Reliefs übernommen wurden. Womöglich erschien die Originalsubstanz der Reliefs den Steinmetzen vielleicht zu unchristlich und wurde in Teilen bewusst zerstört? Haben die mysteriösen Reliefs also womöglich einen heidnischen Hintergrund? Detlef Zinke jedenfalls konstatiert (2): »Eine Art magischer Wirkung geht noch immer von ihnen aus.«

Foto 6: Die zwei Kampfszenen von Freiburg

Kurz und bündig merkt »Das Münster zu Freiburg im Breisgau« (3) an: »Am Kapitell … eine fischgeschwänzte Sirenenfamilie, daneben zwei Kampfszenen zwischen einem Menschen und einem Greifen und zwei geflügelten Kentauren.« Biblisch ist die Darstellung auf keinen Fall, mir ist auch kein mythologischer Stoff bekannt, der hier in Stein verewigt sein könnte. Insgesamt sind zwei Paare von Duellanten zu erkennen: 

Foto 7: Greif contra Mensch
 Da ist einerseits ein mächtiger Vogel Greif, der sich mit einem Menschen duelliert. Der Vogel Greif: ein Mischwesen, eine Mixtur aus Löwe und Greifvogel. Der Mensch hält zur Verteidigung ein Schild vor sich und hebt gleichzeitig sein Schwert hoch über den Kopf. Offenbar fühlt er sich seinem Gegner gewachsen, ja vielleicht überlegen. Wird es ihm gleich gelingen, den Greif – das Untier dürfte in etwa Pferdegröße haben – zu töten?


Foto 8: Greif gegen Greif
Und da sind andererseits – Paarung Nummer 2 – zwei Kentauren. Auch sie tragen einen mörderischen Zweikampf aus. Sie haben Pferdeleiber mit spitz zulaufenden Flügeln und menschliche Oberkörper. Beide sind mit runden Schilden ausgestattet – und mit Schwertern. Eine der beiden Kreaturen holt mit der Waffe zum Schlag aus, die andere zum Stich. Es gelingt ihm, am Schild vorbei zu stoßen. Der linke Kentaur, scheint mir, wird den Kampf gewinnen. (Foto 8!)

Mischwesen sind mir auf meinen Reisen immer wieder begegnet, zum Beispiel in Indien. Der mächtigste Gott Indiens war – und ist – Shiva. Shiva hatte einen göttlichen Sohn, Ganesha. Ganesha wird schon seit »ewigen Zeiten« als Vermittler zwischen seinem Vater Shiva und den Menschen angesehen. Er wird als Mischwesen dargestellt: auf dem Körper eines Menschen sitzt der Kopf eines Elefanten. Wer Shivas göttlichen Beistand sucht, bittet Ganesha um Hilfe als Kontaktler zwischen einem Irdischen und dem Höchsten. Als besonders glücksbringend gilt es, von einem Elefanten »gesegnet« zu werden. Es ist ein ganz besonderes Gefühl, diese huldvolle Geste zu empfangen, die schon kleine Elefanten spenden. Sanft legte so ein jugendlicher Repräsentant Ganeshas seinen geschmeidigen Rüssel auf mein Haupt.

Noch ein Beispiel: Auch wenn die Einzelheiten auch in der Bevölkerung der Osterinsel umstritten sind: Es wurde ein »Vogelmensch-Kult« zelebriert, dessen Ursprung in Vergessenheit geraten ist. Bei Orongo stellte man die geheimnisvollen »Vogelmenschen« dar: Seltsame, fast monströs wirkende Mischwesen aus Mensch und Vogel wurden in den Stein geritzt, oft direkt neben Darstellungen des fliegenden Gottes Make Make. Wer waren diese »Vogelmenschen«? Hatten sie einen Bezug zum fliegenden Gott Make Make und den gigantischen Statuen der Osterinsel? Und wann wurden die monströsen Figuren und kuriosen Ritzzeichnungen geschaffen? Und warum finden sich derlei Fabelwesen im Münster zu Freiburg?

Fotos 9 und 10: Der Küstentempel von Mahabalipuram. Göttervehikel in Stein

Die Kentauren der griechischen Mythologie gelten als unbeherrschte, lüsterne Wesen. Zur Begrüßung der Gläubigen am Eingang einer Kapelle in einem christlichen Gotteshaus sind sie denkbar ungeeignet. Die Kentauren Griechenlands gehen auf hinduistische »ashvins« zurück. Und das waren göttliche Wesen, die zwischen Himmel und Erde pendelten. Ausgiebig werden sie im altindischen Epos »Rig Veda« beschrieben. 

Die meiner Meinung nach beste Übersetzung stammt von Hermann Grassmann (Foto 11). Im uralten Epos erfahren wie viel über die Götter uralter Zeiten. Wann sich – zum Beispiel – die geschilderten Himmelsschlachten ereigneten, ist in der Welt der Wissenschaft umstritten und wird heftig diskutiert.

Foto 11: Übersetzung Grassmann
Sehnsüchtig hoffen die Menschen damals darauf, dass die Himmlischen zu ihnen kommen. Die (5) »Götterverlangenden«, so heißt es, warten auf den »Götterwagen«.  Der »Götterwagen« transportiert die Himmlischen zur Erde. Und die Götter halten sich gewöhnlich (6) im »weiten Luftraum« oder im »Lichtraum des Himmels« auf. Zur großen Schar der himmlischen Götter gehören die göttlichen Ashvin-Zwillinge Dasra und Nasatya. Mit ihrem goldenen Wagen fahren sie durch die Luft (7). Das darf nicht verwundern, sind die beiden doch »Herren des Himmels«, die auf ihren Reisen aus himmlischen Gefilden zu den Menschen durch die Lüfte den »Glanz ihres Wagens leuchten« lassen (9). Keinen Zweifel lassen die Hymnen an Götter wie die Ashvin-Zwillinge an der Fortbewegungsart der Götter aufkommen: Sie fliegen! Ihr (10) dreiteiliger Wagen ist »schneller als der Gedanke«, mit ihm fliegen die Götter durch die Lüfte, nach der Landung aber rollt er »wenn er zur Erde kommt«.

So führen uns die Fabelwesen im Münster zu Freiburg in die mythische Vergangenheit Indiens. Steinerne Tempel Indiens, wie die von Mahabalipuram, sollen die fliegenden Göttervehikel darstellen. Wie und warum die Kentauren als kunstvolles Relief in ein altehrwürdiges, christliches Gotteshaus gelangten, wir wissen es nicht.

Foto 12: Übersetzung Geldner
Fußnoten
1) Freiburger Münsterbauverein (Hrsg.): 
»Das Freiburger Münster«, 2. Auflage, 
Regensburg 2011, S. 186
2) ebenda
3) Freiburger Münsterbauverein (Hrsg.): »Das Münster zu Freiburg im Breisgau«, bearbeitet von Heike Mittmann, 4., überarbeitete Auflage, Lindenberg 2007
Anmerkung: Achten Sie beim Quellenstudium darauf, dass Sie mit
einer Übersetzung des Rig Veda arbeiten und nicht mit einer Nacherzählung.
Wenn es um Details geht, sind Nacherzählungen wenig hilfreich. Ich persönlich ziehe ältere Übersetzungen vor. Es ist aber an der Zeit, dass ein technisch versierter Übersetzer eine Neuübersetzung wagt.
4) »RIG VEDA. Übersetzt und mit kritischen und erläuternden Anmerkungen
     versehen von Hermann Grassmann in zwei Theilen«, Band 1 Leipzig 1876
(5) Liedkreis 7, Hymnus 2, Vers 5 (Verkürzt 7, 2, 5)
(6) Liedkreis 3, Hymnus 6, Vers 8 (Verkürzt 3, 6, 8)
(7) Liedkreis 1, Hymnus 139, Vers 4 (Verkürzt 1, 139, 4)
(8) Liedkreis 6, Hymnus 62, Vers 1 (Verkürzt 6, 62, 1)
(9) Liedkreis 6, Hymnus 62, Vers 2 (Verkürzt 6, 62, 2)
(10) Liedkreis 1, Hymnus 183, Verse 1 und 2 (Verkürzt 1, 183, 1 und 2)

Zu den Fotos
Foto 13: Rekonstruktion eines Göttervehikels.
Foto 1: Das Münster um 1926. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein 
Fotos 2-4:  Links die Monsterfamilie, rechts Duellanten. Fotos Walter-Jörg Langbein
Foto 5: Die zwei Paare von Duellanten von Freiburg. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 6: Die zwei Kampfszenen von Freiburg. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Greif contra Mensch. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 8: Greif gegen Greif. Foto Walter-Jörg Langbein
Fotos 9 und 10: Der Küstentempel von Mahabalipuram. Göttervehikel in Stein. Fotos Walter-Jörg Langbein 
Foto 11: Rig Veda in der Übersetzung von Hermann Grassmann. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 12: Eine weitere Übersetzung des »Rig Veda«. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 13: Rekonstruktion eines Göttervehikels. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein






372 »Vom Mönch, vom Wolf und von einem Sonnengott«,
Teil  372 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 05.03.2017

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Sonntag, 12. Februar 2017

369 »Auf der Suche nach Alexanders Himmelfahrt«

Teil  369 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Fotos 1 und 2: »Schönster Turm« und das Portal

Das »Münster Unserer Lieben Frau« zu Freiburg im Breisgau wurde anno 1827 zur Bischofskirche und somit zur Kathedrale. Die »Kathedra« ist als Bischofsthron Symbol der hohen Stellung des Bischofs. Bereits um 1200 wurde der sakrale Bau begonnen, 1513 wurde er offiziell abgeschlossen. So präsentiert sich das mächtige Gotteshaus im romanischen, aber auch im gotischen Stil. Anno 1869 pries der Kunsthistoriker den 116 Meter hohen Turm als Schönsten auf Erden. Noch älter als das »Freiburger Münster« sind Reste des steinernen Fundaments einer Pfarrkirche, die wohl um 1130 errichtet wurde. Bald aber wurde das Gotteshaus zu klein. Berthold V, er starb im Jahr 1218 ordnete den Bau einer großen Kirche im Stil des Basler Münsters an.

Marktfrauen bieten geschäftstüchtig Gemüse an. Kaufwillige rempeln Fotofreunde an, die einen imposanten Brunnen im Bilde festhalten wollen. Sie bleiben geduldig mitten im Gedränge stehen, hoffen auf einen freien Blick auf den Brunnen. Ob sie für einen Augenblick freie Sicht auf den Brunnen haben können? Doch schon schieben sich wieder Menschen vor die Linsen. Andere Fotografen möchten ein Stück näher an den Brunnen rücken, brave Müßiggänger möchten sich auf den Rand des Brunnens setzen. Und dazwischen drängen sich Marktbesucher, die ihre großen Taschen mit frischem Gemüse füllen wollen.

Foto 3: Bunte Figuren erzählen die Geschichte Jesu

Einige Marktfrauen beäugen uns Fotografen skeptisch bis missmutig, weil wir die potentielle Kundschaft behindern. Die Einkäufer fühlen sich durch uns Fotografen behindert, weil sie den Zugang zu den Buden erschweren. Nicht sonderlich beliebt sind geführte Menschengruppen, weil die nichts kaufen und viel Platz einnehmen. Die meisten Marktfrauen aber sind gut gelaunt, lachen fröhlich und preisen ihre Erzeugnisse an. Unbeliebt macht sich der eine oder der andere »Störenfried« mit Fahrrad.

Endlich sind wir durch das Getümmel hindurch zum Portal vorgedrungen. Wir stehen vor dem Turmportal. Das mächtige Tor ist »taubensicher« gemacht. Ein feinmaschiges Netz verhindert das Eindringen der symbolträchtigen Vögel. Ob der »Heilige Geist« – er wird in zahlreichen Darstellungen gern als Taube gezeigt – trotzdem eingelassen wird? Freilich war die heilige Taube schon das Sinnbild der Liebesgöttin Venus. Und: der »Heilige Geist« war ursprünglich weiblich. Wir betreten die Vorhalle zum Münster im Turmerdgeschoss. Hoch über unseren Köpfen nehmen wir eine Fülle von Figuren wahr, die uns die biblischen Geschichten näherbringen sollen. Zahlreiche bunte, liebevoll detailreich herausgearbeitete Figuren erzählen uns die Geschichte Jesu. Da sehen wir die Hirten auf dem Felde, denen die Geburt des Heilands verkündet wird. Da liegt Maria, die Mutter Jesu, auf einer Liegestatt, die so gar nicht in einen Stall von Bethlehem zu passen scheint.

Foto 4: Hirten auf dem Felde, die Geburt Jesu.

Wir haben uns durch das Menschengetümmel vor dem Münster hindurchgezwängt. Langsam nähern wir uns dem Haupteingang. Säulenheilige fallen kaum auf. Grimmige Blicke ziehen wir uns zu, weil wir uns zwischen Buden auf womöglich verbotenen Wegen dem Gotteshaus nähern. Ich geb’s ja zu: Ich kann es nicht abwarten, endlich die in Stein verewigte Himmelfahrt von Alexander dem Großen zu sehen.

Wir durchschreiten die Vorhalle und betreten das eigentliche Gotteshaus. Wir bleiben kurz stehen, orientieren uns. Aus der Hektik des Markts kommend tut die Stille im Münster gut. Der hektische Alltag ist außen vorgeblieben. Wir sehen, zwischen imposanten Säulen, den Hochaltar. »Wo ist denn hier die Nikolauskapelle?«, frage ich flüsternd. »Gibt’s gar nicht mehr!«, lautet die Antwort einer hageren älteren Frau. »So ein Unsinn!«, widerspricht ein Herr in dunklem Anzug. »Sie müssen in Richtung Hochaltar gehen, immer geradeaus, dann halten Sie sich rechts, gehen in Richtung Sakristei. Wenn Sie kurz vor der Sakristei stehen, dann wenden Sie sich nach links. Dann sehen Sie auch schon den Eingang zur Nikolauskapelle!« Die ältere Frau widerspricht, fast etwas energisch. »Die Nikolauskapelle gibt es doch schon seit ewigen Zeiten nicht mehr!« Mächtiges Orgelgebraus setzt ein, übertönt jedes Gespräch.

Foto 5: Unterwegs zur Nikolauskapelle.

Gehen wir gemeinsam weiter, und zwar nach rechts, vorbei am Lammportal, weiter in Richtung Hochaltar. Nach meinem Grundriss vom Münster, sind wir auf dem richtigen Weg. Vorbei an der Kanzel. Vorbei an der wunderschönen Madonna mit Mondsichel. Königlich wirkt sie, die »Gottesmutter«, stolz trägt sie ihre Insignien, Krone und Zepter. Auch das kleine Jesuskind hat eine Krone auf dem Haupt. Aber weiter geht es in Richtung Sakristei, zur Nikolauskapelle.

Um das Jahr 1200 wurde die Nikolauskapelle angelegt: im Untergeschoss des »südlichen Hahnenturms«. Anno 1507 freilich wurde die Stirnwand der Kapelle entfernt, aus der Kapelle wurde ein Durchgangsraum zwischen Querhaus des Münsters und dem Umgangschor. Der Kapellencharakter ging so verloren. Somit gibt es die Nikolauskapelle seit einem guten halben Jahrtausend nicht mehr als geschlossenen Raum. Erhalten geblieben ist allerdings das Portal zur einstigen Nikolauskapelle. Und das hat es wirklich in sich! Warum hat man diese mysteriösen Kunstwerke am Portal zur einstigen Nikolauskapelle belassen und nicht entfernt? Die Motive, die wir an den Kapitellen, etwa in Kopfhöhe, sehen, sie sind alles andere als »christlich«. Sie sind wohl die ältesten sakralen Kunstwerke im Münster zu Freiburg. Hat man aus Respekt vor dem Alter nicht gewagt, diese geheimnisvollen Darstellungen zu zerstören? Hat man sie aus einem älteren Bau übernommen?

Foto 6: Schlüssel zu den Geheimnissen
Fotografieren lassen sich die faszinierenden Kunstwerke nicht so ohne weiteres. Blitzlicht darf nicht eingesetzt werden, schärft mir ein aufmerksamer Wächter ein. Ein Großteil des Eingangs in die Nikolauskapelle liegt im Halbdunkel. Eines der Reliefbilder wird von einem kleinen Strahler erleuchtet. Das Licht an der einen Stelle lässt die Dunkelheit an den anderen noch intensiver erscheinen. Ein Reliefbild  liegt vollkommen im Dunkel. Durch das Gittertürchen in die ehemalige Kapelle fällt Licht, wirft Schattenmuster auf die zwei übrigen Reliefs. Sie wirken dadurch noch geheimnisvoller, ja irgendwie magisch. Es kommt mir so vor, als würden wir in eine heidnische Vergangenheit blicken, in eine Zeit vor der Christianisierung. Die Reliefs könnten aus einem uralten Tempel stammen, als Überbleibsel eines religiösen Kults, über den wir überhaupt nichts wissen. Sie wirken wie Momentaufnahmen aus einem Film, der an willkürlich gewählter Stelle gestoppt wurde. Wir sehen die Bilder, verstehen sie aber nicht. Können wir versuchen, sie zu interpretieren?

Theologische Interpreten neigen dazu, auch heidnische Motive in der sakralen Kunst so zu deuten, dass die eigene Lehrmeinung bestätigt wird. Christliche Theologen sehen gern auch in heidnischen Symbolen christliches Gedankengut. Jeder meint, über den richtigen »Schlüssel« zu verfügen, mit dem man die »wahre Bedeutung« sakraler Kunstwerke wie einen Geheimcode dechiffrieren kann. Die Reliefs am Eingang zur ehemaligen Nikolauskapelle freilich haben so gar nichts Christliches zu bieten: ein Familienidyll mit Monstern, die Himmelfahrt Alexander des Großen, kämpfende Mischwesen und einen Wolf, der keine Lust hat, die Kunst des Schreibens zu erlernen. 

Foto 7
Zu den Fotos
Foto 1 Der »schönste Turm der Welt«. Foto wikimedia commons/ Daderot
Foto 2: Das Portal mit dem Tympanon. Foto wikimedia commons Foto Todor Bozhinov
Foto 3: Bunte Figuren erzählen die Geschichte Jesu. Foto wikimedia commons/ dr. avishai teicher
Foto 4: Hirten auf dem Felde, die Geburt Jesu. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 5: Unterwegs zur Nikolauskapelle. Foto Walter-Jörg Langbein.
Foto 6: Wer hat den Schlüssel zu den Geheimnissen? Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Grundriss des Münsters, Weg zur Nikolauskapelle, gelb eingezeichnet. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein (links)

370 »Familienidyll mit Monstern«,
Teil  370 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 19.02.2017


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Sonntag, 30. November 2014

254 »Ein Menschenfresser und Maria«

»Ein Panoptikum des Schreckens – in der Kirche – Teil 3«

Teil 254 der Serie

»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                        
von Walter-Jörg Langbein



Das Münster zu Hameln. Foto W-J.Langbein

Das Münster zu Hameln kann als Modell eines mythischen Universums gesehen werden. Die Krypta stellt die Unterwelt dar, der Innenraum des Gotteshauses steht für die Welt der Lebenden und die hohen steinernen Säulen tragen das Himmelsgewölbe. Fast identisch war die Vorstellungswelt der Mayas. Die Wurzeln des Ceiba-Baums sind ein Abbild der Unterwelt, die hohen schlanken Stämme versinnbildlichen die Welt von uns Lebenden und die Krone wird mit dem Himmel gleichgesetzt. Diese drei »Etagen« finden wir auch im Münster zu Hameln.

Die Krypta von Hameln. Foto W-J.Langbein

Die Krypta – Unterwelt – wird von so manchem Besucher des Gotteshauses aufgesucht. Die zweite »Etage« wird von zahllosen Besuchern aus aller Herren Länder langsam oder hastig durchschritten. Kaum einer freilich bringt die Krypta mit der Unterwelt oder gar mit der Hölle in Verbindung.

Dabei gibt es auch zu Beginn des dritten Jahrtausends nach Christus im »christlichen Abendland« nach wie vor die Vorstellung von der »Hölle«. Man denkt an einen nach Schwefel stinkenden Ort, wo gewaltige Feuer lodern und arme Seelen für ihre Sünden büßen müssen. »Das Handbuch der Bibelkunde« vermeldet (1):

»Die Hölle unseres Begriffs hat im biblischen Sprachgebrauch keine genaue Entsprechung:« Und doch hat es einen realen Ort im Land der Bibel gegeben, der unserer Vorstellung vordergründig zumindest nahe kommt. Um 800 v.Chr. gab es diese »Hölle« im Südwesten Jerusalems.


Im Gehenna-Tal wurden dem assyrischen Gott Moloch (links) Opfer dargebracht. Dann und wann sollen sogar Menschen verbrannt worden sein, um ihn gnädig zu stimmen. Den Jahweanhängern war jene Stätte ein Ort des Grauens. Vermutlich störte sie die Tatsache, dass dort gelegentlich Menschen ihr Leben ließen, nicht sonderlich. Dass aber dort einem fremden König gehuldigt wurde, missfiel ihnen sehr. Deshalb ließ König Josias um 625 v.Chr. das Tal entweihen. Weil es den Anhängern eines fremden Glaubens heilig war, ließ er es in eine stinkende Abfalldeponie verwandeln. Berge von Knochen wurden aufgehäuft und verbrannt. Müll wurde angekarrt und ebenfalls angezündet. Schwefel wurde beigefügt, um die Feuersglut Tag und Nacht nie verlöschen zu lassen. Es entstand ein Ort, der unserer Vorstellung von Hölle recht nahe kommt.

Aus der fremden Kultstätte war ein stinkendes Abfallfeuer geworden. Der Prophet Jesaja nun dachte an die Zukunft. Dort würden jene Juden, die nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes lebten, ihre gerechte Strafe erhalten: im »Glutofen« (2) des Gehenna-Tals. Hier würden dann die vom rechten Glauben abgefallenen Juden auf ewige Zeiten brennen (3):

»Und sie werden hinausgehen und schauen die Leichname derer, die von mir abtrünnig waren. Denn ihr Wurm wird nicht sterben, und ihr Feuer wird nicht verlöschen, und sie werden allem Fleisch ein Gräuel sein.«

Die Hölle ist nach unserer Vorstellung der Wohnort der Teufel, die die Sünder peinigen und quälen. Unsere Hölle ist die Heimat bösartiger Dämonen. Die biblische Gehenna-Hölle ist ein Ort, an dem Gott strafen wird: Und zwar ausschließlich vom Glauben abgefallene »Gottlose«. Teufel sind da nicht vorgesehen.

Der Moloch von Hameln. Foto W-J.Langbein

Durch den griechischen Einfluss auf das »Neue Testament« kam es zu einer Helenisierung des Begriffs »Hölle«.  Offensichtlich entwickelte sich das Bild vom künftigen Ort des Gerichts zu einem »Warteraum« für Tote, in welchem Verstorbene auf die himmlische Justiz warten. Bei Lukas lesen wir (4): »Als er nun (der Reiche) bei den Toten war, hob er seine Augen in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß.« So kommt zum heißen Ort der Qualen im »Neuen Testament« noch eine Art »Himmel« hinzu.

Jesaja weiß nur von einer stinkenden Hölle (5): »Denn vorlängst ist eine Gräuelstätte zugerichtet; auch für den König ist sie bereitet. Tief, weit hat er sie gemacht, ihr Holzstoß hat Feuer und Holz in Menge; wie ein Schwefelstrom setzt der Hauch des Herrn ihn in Brand.« Der »Schwefelstrom« blieb im Volksglauben bis in unsere Zeiten erhalten: Gilt doch nach wie vor bei vielen Gläubigen die Hölle als nach Schwefel stinkender Ort des Grauens. Und der Teufel selbst, Herr der Unterwelt mit vielen Namen, soll ja einen intensiven Schwefelgestank verbreiten!

Menschenfresser Moloch.
Im »Alten Testament« kommt ein Himmel, so wie wir ihn uns heute vorstellen, nicht vor. Das »Alte Testament« kennt lediglich die Himmel als das Firmament, das sich über den Menschen wölbt.

Der modernisierte Terminus »Gehenna« imitiert lautsprachlich das aramäische »Gehanna« und entspricht dem hebräischen »Ge Hinnom«. »Ge Hinnom«  lässt sich das mit »Sohn von Hinnom« übersetzen. Das »Gehenna-Tal« war demnach das »Tal des Sohns von Hinnom« oder – zutreffender –  »Schlucht des Sohns von Hinnom«. Vom stinkenden Höllenschlund zum Teufelsberg. Östlich von Jerusalem wurden auf einem Berg dem Moloch kleine Kinder geopfert (6):

»So sollst du dem Herrn, deinem Gott, nicht dienen; denn sie haben ihren Göttern alles getan, was dem Herrn ein Gräuel ist und was er hasst; denn sie haben ihren Göttern sogar ihre Söhne und Töchter mit Feuer verbrannt.« Es gibt keinen Zweifel, dass da auf grausame Weise dem Gott Moloch gehuldigt wurde: indem Kinder bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Hinter dem Namen Moloch verbirgt sich das hebräische Wort für König. Sollte also ein König der Hölle gemeint sein? Oder war er gar ursprünglich ein Bewohner des Himmels, der zum menschenfressenden Monster mutierte? In der Kunst wurde Moloch immer wieder gern als kinderverschlingendes Ungetüm gezeigt. Nur wenige Besucher des Münsters zu Hameln wissen, dass hoch oben auf einer der Säulen Moloch höchstselbst dargestellt sein könnte.

Moloch frisst ein Kind. Fotos W-J.Langbein

Die Säulenkapitelle erlauben den Blick in eine zum Teil albtraumhafte Welt des Grauens. Spärlich beleuchtet scheinen sich die in Stein gemeißelten Abbildungen zu verändern, zu bewegen. Aus  kunstvoll gearbeiteter Ornamentik formieren sich plötzlich Monsterwesen. Da sind zwei schlangenartige, hoch aufgerichtete Kreaturen. Beide blicken zueinander, das heißt…. auf ein Wesen in ihrer Mitte. Ich halte die rätselhafte Darstellung für ein Bildnis des Menschenfressers Moloch.

Spinnweben erinnern an das Ambiente eines Horrorfilms mit Vincent Price. Pflanzenartig wuchern die zwei hässlichen Geschöpfe, deren Augen und Mäuler immer klarer zu erkennen sind, je genauer man hinschaut. Nach und nach gewöhnt sich das menschliche Auge an die ungünstigen Lichtverhältnisse. Nach und nach tritt »mein« Moloch hervor. Durch das lichtstarke 400-Millimeter-Objektiv meiner Kamera erkenne ich Details. Moloch starrt in Richtung Betrachter. Mit festem Griff hat er ein Kind gepackt, sein Kopf hängt nach unten, die Beine sind anscheinend schon im Maul des gefräßigen Kannibalen verschwunden. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis das arme Geschöpf vollständig im Rachen des Moloch verschwunden sein wird!

Erkennen Sie die mysteriöse Muttergottes? Foto W-J.Langbein

Wenn Ihnen der Moloch zu düster ist, suchen Sie am besten die Darstellung der Gottesmutter. Sie finden sie am südlichen Mittelschiffpfeiler, Nordostecke, entstanden vor etwa 800 Jahren! Es handelt sich um eine rätselhafte Maria mit Lichtscheibe. Hoch oben an einem der Säulenkapitelle – in Gesellschaft von Moloch, Sauriern und anderen mysteriösen Wesen – blickt die Muttergottes auf den Kreuzaltar…

Maria mit der »Lichtscheibe«. Foto W-J.Langbein

Die biblischen Bilder – auch jene von Hölle und Himmel – sind das Ergebnis einer Entwicklung über viele Jahrhunderte hinweg, die vielleicht niemals abgeschlossen ist. Die christlichen Glaubensvorstellungen – etwa von Hölle und Himmel – sind nicht als fertige Gedanken übernommen worden. Sie haben sich nach Beendigung der Arbeit an den biblischen Texten nach und nach entwickelt. Das zeigt, dass Glaube sich seit mehr als zwei Jahrtausenden verändert. Diese Erkenntnis gibt zu Hoffnung Anlass: Auch heute und morgen wird sich Glauben ändern. Nur dann kann er langfristig dem suchenden Menschen Hilfe bieten.

Menschenfressende Monster sollten in keiner Religion mehr zu finden sein. Es gibt sie auch nicht mehr, diese schrecklichen Wesen. Sie sind überflüssig geworden, weil fundamentalistische Fanatiker mit zunehmender Begeisterung die Rolle des mordenden Molochs übernehmen. Sie tun das mit religiöser Inbrunst, wollen den Weg ins Paradies antreten. Sie erreichen aber, dass schon im Hier und Jetzt die Welt zur Hölle wird. Als Teufel bewähren sich dann fanatische Menschen.

Ein Glaube, der einmal stehen bleibt, ist ein Auslaufmodell und verschwindet irgendwann in der Versenkung der Bedeutungslosigkeit. Aber sind die Vertreter der heutigen großen Religionen überhaupt dazu bereit, Glaubenslehren der aktuellen Zeit anzupassen? In einer Zeit der moralischen wie religiösen Ungewissheit droht eine große Gefahr, nämlich dass Fundamentalisten immer mehr Zulauf gewinnen. Warum? Weil immer mehr Menschen Zweifel nicht ertragen können und begeistert jenen folgen, die möglichst lautstark ganz präzise postulieren, was angeblich Gott von uns Menschen fordert.

Fußnoten

Der Ceibabaum der Mayas. Foto W-J. Langbein
 
1) Mertens, Heinrich A.: »Handbuch der Bibelkunde«, 

Düsseldorf  1966, Seite 336
2) Der Prophet Jesaja Kapitel 31, Vers 9
3) Der Prophet Jesaja Kapitel 66, Vers 24
4) Das Evangelium nach Lukas Kapitel 16, Vers 23
5) Jesaja Kapitel 30, Vers 33
6) 5. Buch Mose Kapitel 12, Vers 31

»Ketzerisches von einem Theologen«,

Teil 255 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                        
von Walter-Jörg Langbein,                      
erscheint am 07.12.2014
 



Fußnoten

1) Mertens, Heinrich A.: »Handbuch der Bibelkunde«, Düsseldorf  1966, Seite 336
2) Der Prophet Jesaja Kapitel 31, Vers 9
3) Der Prophet Jesaja Kapitel 66, Vers 24
4) Das Evangelium nach Lukas Kapitel 16, Vers 23
5) Jesaja Kapitel 30, Vers 33
6) 5. Buch Mose Kapitel 12, Vers 31


Teil 255 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                        
von Walter-Jörg Langbein,                      
erscheint am 07.12.2014

 


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Sonntag, 23. November 2014

253 »Noch mehr Saurier«

»Ein Panoptikum des Schreckens – in der Kirche – Teil 2«
Teil 253 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Foto 1: Blick vom hohen Turm des Münsters auf das Münster.

Ein Buch lesen kann heute fast jeder. Gewiss, der Anteil der Analphabeten ist für unser Bildungssystem nicht gerade ein Kompliment. So stellte die Universität Hamburg 2011 fest, dass zwei Millionen Erwachsene in Deutschland »totale Analphabeten« waren, also rund vier Prozent der Bevölkerung. 1992 monierte das  »Institute of Literacy«, dass jeder vierte US-Bürger so gut wie nicht lesen und schreiben konnte. Vor rund einem halben Jahrtausend waren die Lesekundigen in Deutschland eine kleine Minderheit. Luthers Bibelübersetzung erreichte auch trotz des noch jungen Buchdrucks nur eine kleine Zahl von Menschen.

Vor 500 oder gar 700 Jahren war ein Buch nicht Symbol für allgemein zugängliches Wissen, sondern – ganz im Gegenteil – für verborgene Kenntnisse, die nur Wenigen zugänglich waren. Bildliche Darstellungen wie etwa in der evangelisch-reformierten Kirche zu Sonneborn aus dem 16. Jahrhundert sollten den leseunkundigen Menschen Geschichten »erzählen«, die sie als geschriebene Worte nicht lesen konnten.

Wenn in Kirchen und Domen, Kapellen und Kathedralen Gemälde, Reliefs und Statuetten Geschichten vermitteln sollten, wieso wurden dann im Münster zu Hameln erstaunliche Bildnisse als Kapitelle in rund zehn Meter Höhe angebracht, die man als Besucher kaum erkennen kann? Und welche Botschaften sollen uns diese eigenartigen Kunstwerke vermitteln, die der heutige Besucher kaum zur Kenntnis nimmt?

Foto 2: Das Geheimnis des Buchs. Foto Walter-Jörg Langbein

Ein wiederkehrendes Motiv im steinernen »Bilderbuch« der Kapitelle im Münster zu Hameln ist eine Person, die ein Buch in den Händen hält. Der Mensch liest aber nicht im Buch, sondern hält es imaginären Betrachtern geöffnet hin. Der Mensch – ob Mann oder Frau ist nicht genau zu erkennen – bietet uns Wissen an. Welches Wissen? Man darf vermuten, dass dieses Wissen in den Figürchen der Kapitelle zu finden ist.

In zwei miteinander kämpfenden Langhalswesen, verewigt im steinernen »Buch« der Kapitelle im Münster zu Hameln erkenne ich zwei Saurier, genannt »Brachiosaurus altithorax«. Sehr große Ähnlichkeit besteht auch mit Diplodocus-Sauriern.  Es ist mehr als geheimnisvoll, wie der Künstler, der die Reliefs der Kapitelle Brachiosaurus- oder Diplodocus-Saurier so naturgetreu darstellen konnte. Selbst wenn dem Künstler womöglich Saurierknochen bekannt waren, so konnte zur Entstehungszeit der Kapitelle (also im frühen dreizehnten Jahrhundert!) niemand wissen wie so ein »Drachen« vor 60 oder 70 Millionen Jahren ausgesehen hat. Rekonstruktionen von Saurier-Skeletten  wurden damals nicht vorgenommen. Ausgeschlossen ist, dass im frühen dreizehnten Jahrhundert irgendwo auf der Welt noch lebende Saurier existierten, die dem Künstler als Vorlage hätten können.

Fotos 3 und 4: Saurier im Vergleich...

Mehrere Tage hielt ich mich insgesamt im Münster zu Hameln auf und studierte ausgiebigst die  Säulenkapitelle, zunächst mit bloßem Auge, dann durch das 400-Millimeter-Teleobjektiv meiner Nikon D3300. Ich fühlte mich immer wieder in ein wahres Horrorkabinett versetzt, und das in einem der schönsten Gotteshäuser, die ich je besucht habe. Da tauchen plötzlich seltsame Ornamente auf, sorgsam in den Stein geritzt und skulpturiert. Bei näherem Betrachten »verwandeln« sie sich aber scheinbar (oder anscheinend?) in seltsames, geheimnisvolles Blattwerk. Gab es je solche Pflanzen? Konzentriert man sich aber auf einige dieser Pflanzen, so sind plötzlich deutlich Gesichtszüge fantastischer Monster auszumachen, mit Augen, Ohren, Stirn, weit aufgerissenen Mäulern.

Als Fabelwesen und reine Fantasiegebilde tut sie ab, wer nach dem Motto urteilt, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Sobald man aber auch das scheinbar Fantastische als möglich ansieht, entdeckt man tatsächlich ein Panoptikum des Schreckens in der Münster-Kirche zu Hameln, hoch oben an den Säulen-Kapitellen verewigt: Saurier und andere Monster! Und manchmal verwandeln sich zunächst scheinbar harmlose Bilder in furchteinflößende.

Ganz besonders raffiniert sind einige Darstellungen, die man nur von ganz bestimmten Punkten in der Kirche in ihrer Gesamtheit erkennen kann. Da sieht man in einem Fall zunächst ein niedliches »Kätzchen«. Der aufgerichtete Schwanz ist zu erkennen. Auch die kleinen Öhren meint man ganz klar ausmachen zu können. Tritt man aber einen Schritt zur Seite. Dann verwandelt sich das Bild vollkommen, wenn man es in seiner Ganzheit betrachtet.

Fotos 5 und 6: Links die »Katze«, rechts Tyrannosaurus Rex und Beutetier...

Da taucht plötzlich ein furchteinflößendes Monster auf. Es steht, aufgerichtet, auf seinen mächtigen Hinterbeinen. Der Leib passt zu den Hinterpranken, auf denen das Tier steht. Ganz und gar nicht scheinen die Ärmchen des Tieres im Einklang zum gesamten Körper zu stehen. Der Kopf des Tieres verschmilzt mit dem Kopf des »Kätzchens«. Wir erkennen jetzt allerdings nicht mehr, um was für ein Wesen oder Tier es sich bei dem »Kätzchen« handelt. Auf alle Fälle ist das kleinere Wesen das Opfer des großen, das dem kleinen offenbar in den Kopf beißt.

Versuchen wir unvoreingenommen zu sein. Stellen wir uns eine Filmszene vor. Ein großes Tier kämpft gegen ein kleineres, ja das große Tier ist dabei, das kleinere zu verschlingen. Das große Tier hat lange kräftige Hinterbeine, auf denen es aufgerichtet steht. Völlig unpassend zu diesen Hinterbeinen sind die kleinen, kurzen Ärmchen. Um was für ein Tier könnte es sich handeln? Wenn Sie sich je etwas näher mit Sauriern beschäftigt haben oder zumindest einen Teil aus der Filmreihe »Jurassic Park« kennen, werden Sie an einen besonders monströsen Saurier denken: an Tyrannosaurus Rex. Dessen Merkmale sind: Mächtige Hinterbeine mit kraftvollen Pranken, dazu im Verhältnis scheinbar unpassend kleine Ärmchen, halbaufrechter oder aufrechter Gang… Und genau diese Merkmale hat auch das Tier auf dem Säulenkapitell in der Münsterkirche zu Hameln aufzuweisen!

Foto 7: Tyrannosaurus Rex beißt zu... in der Kirche...

Betrachten Sie bitte noch einmal das Wesen aus dem »Panoptikum« der Hamelner Münster-Kirche.

Mit ein wenig Fantasie erkennen Sie zusätzlich zu den schmächtigen Vorderbeinen (Ärmchen) und den kräftigen Hinterbeinen den langen Schwanz des »Tyrannosaurus Rex« in Stein. Oder nicht? Wenn Sie voreingenommen sind, wenn Sie davon ausgehen, dass kein Mensch vor 700 Jahren wissen konnte, wie ein Tyrannosaurus ausgesehen hat, ist der Sachverhalt klar. Dann kann es auf der Darstellung auf einem Säulenkapitell in der Klosterkirche zu Hameln keine Darstellung eines Sauriers gegeben haben. Und dann sehen Sie natürlich kein solches Tier, das nach Schulwissenschaft vor 60 oder 70 Millionen Jahren ausgestorben ist. Wenn aber diese Grundannahme falsch ist? Wenn es eine Zeit gegeben haben sollte, in der es Menschen und Saurier als Zeitgenossen gegeben hat?

Foto 8: »Mysteries«
Der Schweizer Journalist und Buchautor Luc Bürgin gibt das Fachmagazin »mysteries« heraus. In der September/ Oktober-Ausgabe 2014 erschien ein Artikel (1), von Luc Bürgin selbst verfasst. Wie so oft publiziert Bürgin eine Vielzahl von Informationen, die der bisher gültigen Lehre der Schulwissenschaftler radikal widersprechen. In der Schulwissenschaft gibt es keinen Platz für Menschen und Dinosaurier als Zeitgenossen. Auf fünf durchweg mit Farbfotos illustrierten Seiten prasseln Informationen auf Leserinnen und Leser herab, die die immer noch als allgemeingültig angesehene Lehrmeinung als falsch erkennen lassen können.

Bürgin schreibt (2): »Verzweifelt attackieren kleinwüchsige Afrikaner monströse Riesenkreaturen, die verdächtig an Dinosaurier erinnern. Dies nicht in irgendwelchen Fantasyfilmen – sondern auf altrömischen Mosaiken! Ähnlich paradoxe historische Darstellungen finden sich in Thailand, Kambodscha, England und nun auch in Peru, wie soeben bekannt wurde. Existieren Menschen und Riesenechsen in grauer Vorzeit doch gemeinsam?«

Besonders faszinierend finde ich die Entdeckung einer »Dinosauriermalerei«, die der Kanadier Vance Nelson mit seinem Team kürzlich in Nordperu, am Rand des Amazonas-Regenwalds filmen konnte. Da sieht man die stilisierte, korrekte Wiedergabe eines Dinosauriers, der von neun winzigen Jägern oder Kriegern umstellt ist. Die im Verhältnis zum Saurier winzig wirkenden Menschen sind mit Speeren bewaffnet und wollen offensichtlich den Saurier erlegen. Der Forscher bestätigte »mysteries«, dass man nicht nur die unmögliche Darstellung gefilmt und fotografiert habe. Es wurden auch »Pigmente der Felszeichnungen« von einem wissenschaftlichen Institut datiert. Eindeutiges Ergebnis: Die Darstellung des Sauriers mit den neun bewaffneten Jägern ist drei Jahrtausende alt.

Foto 9: Kämpfende Monster, ein Buch bietet Geheimnisvolles....

Kehren wir noch einmal in die Münster-Kirche zu Hameln zurück. Direkt neben der beschriebenen und im Bild vorgestellten Darstellung des »Tyrannosaurus« im Kampf mit seinem Beutetier (Pfeil) befindet sich ein menschliches Wesen, das uns Betrachtern ein geöffnetes Buch entgegenstreckt (zwei Pfeile). Man kann diese Kombination wie folgt interpretieren: Der Du diese Bildnisse betrachtest, ich offenbare Dir ein Geheimnis. Das Geheimnis von furchteinflößenden Monstern, die gegeneinander kämpften.

Das Geheimnis von Sauriern, die vor rund 700 Jahren von unbekannten Künstlern in den Stein gemeißelt wurden, der noch heute im Münster zu Hameln besichtigt werden kann?

Zu den Fotos: Alles Fotos - falls nicht anders angegeben - Walter-Jörg Langbein

Fotos 1, 2, 3, 5, 6, 7 und 9 - Walter-Jörg Langbein

Fotos 3 und 4: 
Foto 3 - Walter-Jörg Langbein
Foto 4 -  wiki-commons - Dmitry Bogdanov

Fußnoten

1) »mysteries«, Erscheinungsort Basel, Ausgabe September/ Oktober 2014, S. 56-60: »Lebten Dinos und Menschen zusammen?«, Verfasser lb., Luc Bürgin
2) ebenda, S. 56
3) ebenda, S.60

»Ein Menschenfresser und Maria...
Ein Panoptikum des Schreckens – in der Kirche – Teil 3«
Teil 254 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 30.11.2014


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Sonntag, 16. November 2014

252 »Ein Panoptikum des Schreckens – in der Kirche«

Teil 252 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Das Münster zu Hameln birgt manches Geheimnis.
Foto W-J.Langbein

Einst gab es ein Kloster in der »Rattenfängerstadt« Hameln. Die Klosterkirche fand Eingang in das Wappen der Stadt. Einst war die Klosterkirche eine romanische Basilika. Anno 1209 brach ein Feuer aus, das Gotteshaus wandelte sich zur gotischen Hallenkirche. 1450 wurde die Westvorhalle zum Turm aufgestockt. Anno 1564 wurde das Innere der Kirche umgestaltet, alles Bunte wurde weiß übertüncht, die alten Wandmalereien verschwanden.

Ende des 18. Jahrhunderts drohte der Einsturz. Der Besuch der Kirche wurde für Gemeinde und Geistlichkeit zu gefährlich. Die einstige Klosterkirche, das Münster zu Hameln, verfiel langsam. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts nutzten Napoleons Truppen den bedrohlichen Bau als Stall und Materiallager.

Die Münsterkirche drohte einzustürzen. Foto W-J.Langbein

1870 bis 1875 wurden massive Renovierungsarbeiten durchgeführt, Mitte der 1950er Jahre kam es zu massiven Sanierungsarbeiten. Die Münsterkirche war gerettet. In der Krypta gruben Archäologen und entdeckten Skelette. Die Gebeine der Stiftsherrn wurden umgebettet und fanden auf dem städtischen Friedhof ihre – vorerst? – letzte Ruhestätte. Ein Hamelner »Medium« teilte mir Ende August 2014 zu nächtlicher Stunde mit, es geben einen »Fluch« der Stiftsherrn. 

Die vornehmen Toten seien mehr als nur erbost über die Störung ihres Totenschlafs. »Sie wurden unter der Klosterkirche in der Krypta bestattet. Dort wollten sie am ›Jüngsten Tag‹ wieder auferstehen und am ersten Gottesdienst nach der Apokalypse im mächtigen Hamelner Gotteshaus teilnehmen.«, teilte mir das »Medium« mit. »Einige der Totengeister versuchen seither…«, so das Medium weiter, »in die Krypta zurückzukehren.« Mit der Umwandlung der Krypta in einen weiteren Raum für Gottesdienste seien die Geister der Stiftsherrn gar nicht einverstanden.«

Mir ist indes kein Hinweis auf Spukerscheinungen in der Krypta bekannt. Ganz im Gegenteil! Die Krypta ist ein besinnlicher Ort und lädt zum Verweilen ein. Pilger wie »normale« Gottesdienstbesucher schätzen die Stille in der Hektik der Stadt. So mancher Gläubige verweilt hier unter der Münsterkirche in stillem Gebet.

Mysteriöse Gestalt am Münster. Fotos W-J.Langbein

Bei meinem Besuch Anfang August 2014 umrundete ich die Münsterkirche, wie immer mit zwei Fotoapparaten  ausgerüstet. Ein kleines Stück Straße an der Kirche ist kürzlich geteert worden, die Pflastersteine sind verschwunden. Die Aufregung ob dieses Eingriffs in das historische Bild war zunächst recht groß, legte sich aber rasch. Beim modernen »Kriegerdenkmal« an der Kirche entdeckte ich eine steinerne Figur an der Außenwand des Gotteshauses. Die Statuette hat schon sehr arg unter dem nagenden Zahn der Zeit gelitten. Sie wirkt uralt, so verwachsen sind die Konturen der steinernen Figur. Trotz intensivster Recherche konnte ich nicht in Erfahrung bringen, wen dieses sakrale Kunstwerk darstellen soll. Auch die Geistlichkeit konnte meine Fragen nicht beantworten.

Die mysteriöse Gestalt mit seltsam unnatürlich großem Kopf ist Teil eines steinernen Pfeilers, der sehr viel älter das das Mauerwerk dahinter zu sein scheint. Sollte es sich um eine Mariengestalt handeln, deren Kopf eine mächtige Krone zierte, die im Lauf der Jahrhunderte von den Witterungseinflüssen weitestgehend wieder zum Verschwinden gebracht wurde? Oder handelt es sich um eine weibliche Heilige aus dem Kloster? Überdauerte nur sie die Zeit, während die Klostergebäude längst verschwunden sind (von der Klosterkirche selbst abgesehen)? Besonders in den frühen Zeiten der Reformation ging’s manchmal recht heftig zu. Heiligenbilder wurden aus den katholischen Gotteshäusern verbannt, manchmal zerstört, herrliche Wandmalereien wurden bewusst beschädigt, zerstört oder nur mit einer dicken Schicht Tünche überzogen. Die Figur wirkt fremdartig, fast unheimlich. Im Kirchenführer wird sie nicht erwähnt. Von Besuchern, die meist sowieso gleich den Eingang auf der anderen Seite benützen, wird sie faktisch nie beachtet.

Die Mondmadonna. Foto W-J.Langbein

Sie könnte – ich spekuliere – einst auch eine Isis gewesen sein, eine ägyptische Göttin der Geburt, des Todes und der Wiedergeburt. An eine Isis erinnert auch in verblüffender Weise das »Madonnenrelief« an der Ostwand des nordöstlichen Seitenschiffs. Was wir als Maria mit Jesusknaben sehen, hätte ein Ägypter vor Jahrtausenden als Göttin Isis mit dem Horusknaben identifiziert. 

Die Göttin Isis wurde spätestens von den Griechen mit dem Mond gleichgesetzt. Auch Maria wird häufig mit dem Mond in Verbindung gebracht. Auf zahllosen Darstellungen steht sie auf der Mondsichel. Die Mond-Madonna von Hameln, im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts entstanden, hat einen Vollmond unter den Füßen. In der Johannes-Apokalypse taucht eine ähnliche Gestalt auf (1):

»Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen.« Sollte die ägyptische Isis, Göttin von Tod und Leben, Vorbild für das apokalyptische Weib (Theologensprache) gewesen sein? Spiegelt sich in der Mond-Madonna von Hameln die ägyptische Isis wieder?

Heute beeindruckt uns die farbliche Schlichtheit der Mond-Madonna. Einst aber, das beweisen eindeutig winzige Farbreste, war das Relief sehr bunt, ja grell. Die Madonna, ihre Krone, die Engel mit ihren Musikinstrumenten und der Mond unter den Füßen der himmlischen Gestalt strahlten vor allem in Gold. Ein kleiner Teil des Madonnenreliefs wurde farblich rekonstruiert. Im Original ähnelte es also ägyptischer Sakralkunst in einstiger Farbenpracht noch mehr als heute.

Einst war die Mondmadonna sehr bunt. Foto W-J.Langbein

Was wohl die meisten Besucher der Münsterkirche heute übersehen, das sind kunstvoll gearbeitete Miniaturen aus Stein. Entstanden sind die mysteriösen Kunstwerke vermutlich in der Amtszeit des Propstes Friedrich Graf von Everstein (verstorben 1261). Sie werden für gewöhnlich in die Zeit um 1220 oder 1230 n.Chr. datiert. Die bemerkenswerten teils reliefartigen, teils plastisch vorragenden Darstellungen befinden sich in gut zehn Metern Höhe, meist im Halbdunkel. Da und dort sind zwar kleine Scheinwerfer angebracht, die freilich bei allen meinen Besuchen ausgeschaltet waren. 

Der Mond unter den Füßen der Madonna. Foto W-J.Langbein

Ich habe Besucher des Münsters zu Hameln erlebt, denen wenige Minuten Besuchszeit genügten. Sie hasteten durch die Hochzeitstür ins Innere des Gotteshauses, zückten die Digicams und knipsten. Schon strebten sie wieder dem Ausgang zu. Andere wiederum nahmen sich mehr Zeit, nahmen sogar die Mond-Madonna ins Visier und hasteten in die Krypta. Ihnen allen entging die mysteriöse Welt hoch oben über ihren Köpfen. Mit wechselndem Licht verändern sich die Einzelbilder im Panoptikum aus Stein, Licht und Schatten. Es empfiehlt sich, ausreichend Zeit – Stunden, nicht Minuten – aufzubringen, um in diese fremdartige Welt einzutauchen, die man so gar nicht in einem christlichen Gotteshaus erwarten würde.

Da tauchen menschliche Gesichter auf, aber auch Fratzen. Da erscheinen pflanzliche, wuchernde Gebilde, die sich  bei aufmerksamer Beobachtung in Gesichter zu verwandeln schein.. von Fabelwesen, Monstern, Tieren oder Menschen. Die Darstellungen zu erfassen wird dadurch erschwert, dass sie sehr häufig über Eck hoch oben an den Pfeilern angebracht sind. Man muss sich – nicht zu Zeiten von Gottesdiensten natürlich – in der Halle des Münsters hin und her bewegen, bis man einen Punkt  erreicht hat, von dem man aus eine der erschrecken Bildnisse im Ganzen sehen kann.

Zwei Langhalswesen im Münster. Foto W-J.Langbein

Da gibt es zum Beispiel zwei Vierfüßler, ausgestattet mit mächtigen Pranken. Die beiden Kolosse sind einander zugewandt, sie kämpfen offenbar miteinander. Ihre unnatürlich langen Hälse sind ineinander verschlungen. Die Tiere befinden sich offenbar in einem Kampf auf Leben und Tod. Spontan muss ich beim Anblick dieser drachenartigen Wesen an Saurier der Art Brachiosaurus denken. Vierundzwanzig Meter lang und 80 Tonnen schwer wurden diese Urtiere. Oder an zwei Exemplare des pflanzenfressenden Diplodocus, 27 Meter lang und elf Tonnen schwer. Brachiosaurus und Diplodocus hatten ausgeprägte, lange Hälse und ebenso lange Schwänze. Sollte es sich bei den Langhalswesen vom Hamelner Münster also um Saurier handeln? Diplodocus wie Brachiosaurus lebten aber in der späten Kreidezeit, also vor rund 70 Millionen Jahren. Wie sollten dann die Künstler, die die Langhalswesen im Münster zu Hameln in den Stein meißelten, gewusst haben, wie solche Urwesen ausgesehen haben? Über das Aussehen von Sauriern war im frühen dreizehnten Jahrhundert in Deutschland nichts bekannt.

Langhalswesen auf der »Narmer-Platte«. Foto Archiv Langbein

Es wird noch mysteriöser! In Ägypten entstand um 3000 v.Chr. die sogenannte »Narmer-Platte«. Sie zeigt zwei Langhalswesen mit verschlungenen Hälsen. Die beiden Kreaturen müssen sehr groß gewesen sein. Zwei Männer halten sie gefangen. Zwei Saurier, in der Hand von Menschen… das wäre ein Paradoxon erster Güte. Die »Narmer-Platte« besteht aus glatt poliertem Schiefer. Sie misst etwa 64 Zentimeter. Sie befindet sich im »Ägyptischen Museum« zu Kairo.

Aus der gleichen Zeit – 3000 v.Chr. – stammt ein Rollsiegel aus Uruk in Form eines kleinen Zylinders. Rollte man diesen Zylinder über feuchten Ton, entstand das Bild einer Reihe von »Schlangendrachen«  oder »Schlangehalsdrachen«. Diese monströsen Wesen gleichen denen aus Ägypten wie jenen aus dem Münster zu Hameln!

Schlangendrachen.
Foto: Wikimedia Commons/  Marie Lan Nguyen 

Es ist verrückt! Sollten die Steinmetze von Hameln entsprechende Darstellungen von Langhalssauriern in Ägypten oder im einstigen Sumer (heute Südirak) gesehen haben? Stammten die Steinmetze gar aus jenen so fernen Regionen? Und wie konnten Künstler vor rund fünf Jahrtausenden gewusst haben, wie Saurier ausgesehen haben, die vor Zigmillionen Jahren ausgestorben sind?

Fußnoten


1) Apokalypse des Johannes, auch Offenbarung des Johannes genannt, Kapitel 12, Vers 1
2) Siehe auch… Langbein, Walter-Jörg: »Bevor die Sintflut kam«, München 1996

»Noch mehr Saurier«
Teil 253 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 23.11.2014
 



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