Sonntag, 3. November 2013

198 »Elefanten, Tempel und die Göttin«

Teil 198 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Erinnerungen an einen Mord - Foto: Ingeborg Diekmann
Die Welt der Göttinnen und Götter Indiens ist uns fremd. Wie einfach und übersichtlich ist doch der monotheistische Eingottglaube im Judentum, im Christentum und Islam! Besonders einfach haben es wir Christen. Namen müssen wir uns nur einen merken: Jesus hat als Sohn Gottes zu gelten. Gottvater hat keinen Namen, der »Heilige Geist« auch nicht. Wer oder was der »Heilige Geist« ist, das weiß in der Regel auch der eifrigste Kirchgänger nicht wirklich.

Das »Alte Indien« hingegen kennt eine nicht zu überblickende Fülle von weiblichen und männlichen Gottheiten, deren Namen für uns unaussprechbar kompliziert sind. Ich habe vor Ort in Indien manch blasierten Westler erlebt, der sich über »dummen Aberglauben um Elefanten, barbusige Göttinnen und mächtige Kriegergötter« mokierte. »Die Inder wissen doch selbst nicht, wie viele Göttinnen sie anzubeten haben!« Bei etwas gründlicherem Hinsehen wird aber deutlich, dass es immer die gleiche Göttin ist, die in unterschiedlichsten Gestalten mit unterschiedlichsten Namen auftaucht.

Wir westlichen Besucher uralter indischer Tempel freuen uns, wenn wir auf mächtige, geduldige Dickhäuter treffen. Die zum Teil gewaltigen Kolosse sind sehr oft reich geschmückt. Wir dürfen sie streicheln und genießen es, wenn uns so ein Riese mit dem Rüssel sanft unser Gesicht streichelt. Wo sonst kommt man schon in den Genuss, das weiche Rüsselende eines Elefanten so deutlich zu spüren? Wo sonst darf man so einem tonnenschweren Dickhäuter in die listig blinzelnden Äuglein schauen? Man darf die Riesen füttern. Und sie nehmen Spenden in Form von Münzen, aber auch Scheinen geschickt mit dem Rüssel entgegen und reichen sie an ihren Menschen weiter, vermutlich für »Wo am nötigsten!«

Ganesha hat einen Elefantenkopf - Fotos: W-J.Langbein

Parvati, Gattin des Supergottes Shiva, soll – so besagt es ein uralter heiliger Mythos – einst aus Schlamm und Wasser einen Mann erschaffen haben, Ganesha. Die sakrale Überlieferung ist sehr viel älter als der Schöpfungsbericht der Bibel. Alberner Aberglaube? Mancher Christ lächelt herablassend über eine Göttin, die einen Mann aus Wasser und Schlamm kreiert. In der Genesis wird der erste Mensch vom männlichen Gott aus Lehm erschaffen. Was ist nun Aberglaube, was wahre Religion?
Als Shiva den offenbar recht attraktiven Adonis nackt im Schlafzimmer antrifft, so wird überliefert, schlägt er ihm in rasender Eifersucht den Kopf ab ... dem eigenen »Stiefsohn«. Von tiefer Reue gepeinigt verspricht er, dem Kopflosen ein neues Haupt zu schenken ... Das nächste Lebewesen, das des Wegs kommen würde, soll dann ebenfalls geköpft werden. Kurz darauf trottet ein Elefant vorbei, verliert seinen Kopf ... und Ganesha erhält auf seinen menschlichen Leib einen Elefantenkopf.

Als kurios, ja grotesk empfinden wir eine Gottheit mit dem Leib eines Menschen und dem Haupt eines Elefanten. Gewöhnt haben wir uns aber an die sogenannte »Trinität« im Christentum: Gottvater, Gottsohn und Heiliger Geist als eine Einheit. Die »heilige Trinität« ist allerdings Jahrtausende älter als das Christentum. Im »Alten Indien« gab es im ganzen Land zahlreiche Heilige Plätze der Göttin, die so viele Namen hatte. In Kanchipuram wurde und wird »Sri Kamakshi« verehrt, eine Verkörperung von Shivas Gattin Parvati alias »Sri Kamakshi«.

In Kanchipuram residierte »Sri Kamakshi« an einem heiligen Ort, genannt  »Nabisthana Ottiyana Peetam«. Die Göttin, so heißt es, stellt die Verbindung zwischen Göttern und Menschen her. Sie ist wunderschön und gütig. Auf ihrem Haupt trägt sie eine Krone aus Mondstein. Von diesem kostbaren Schmuck gehen göttliche, heilsame Strahlen aus. Der Name der Göttin, »Sri Kamakshi«,setzt sich zusammen aus »Ka« (Göttin der Erziehung und Bildung), »Ma« (Göttin des Wohlstands) und »akshi« (zu Deutsch: »Auge«). Was das zu bedeuten habe, erkundigte ich mich wiederholt in Kanchipuram. Meine Frage löste immer wieder Erstaunen aus.

Teil des Kamakshi-Tempels
Foto: W-J.Langbein
»Sie sind Christ?«, fragte mich ein Physikstudent aus Kanchipuram zurück, als ich mich  nach dem Sinn von »Kamakshi« erkundigte. Der junge Mann blieb sehr höflich, verbarg aber nicht seine Verwunderung über meine aus seiner Sicht wohl nicht eben intelligente Frage. Kennt doch jedes Kind die Antwort! »Wenn Sie Christ sind, dann sind Sie doch mit der Trinität vertraut! Die Göttin Kamakshi ist eine weibliche Dreifaltigkeit. Die Göttin ist eins mit zwei weiteren Göttinnen ... Die Göttinnen ›Ka‹ und ›Ma‹ sind in ihr.«

So exotisch-fremdartig mir die Göttinnen und Götter Indiens auch anmuten mögen ... so glaube ich doch die religiöse Weisheit Indiens zu verstehen. Götter und Göttinnen stehen für die Kraft, die hinter allem steckt. Parvati, Gattin Shivas, Schöpferin von Ganesha, ist die »Mutter des Universums«. Sie zeigt sich auch ... als schwarze Göttin Kali. Kali ist die Verkörperung von Zeit und Natur. Kali hat drei Funktionen: Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung.

Der atheistische Wissenschaftler, der heute mehr über die Entstehung des Kosmos weiß als alle seine Vorläufer zusammen, kann nach wie vor die Frage nach dem »Warum?« nicht beantworten. Warum kam es zum »Big Bang«? Warum dehnt sich das Universum aus, nachdem es zu Urzeiten auf einen Punkt konzentriert war? Wird sich die Ausdehnung irgendwann umkehren? Wird sich das Universum wieder zusammenziehen? Wird es wieder implodieren ... um neu zu explodieren? Dehnt es sich aus, schrumpft es wieder zusammen ... wie ein pochendes Herz oder eine atmende Lunge?  Welche Kräfte verursachen die Entstehung des Universums? Die modernen Wissenschaftler von heute wissen letztlich nicht mehr als die Weisen Indiens vor vielen Jahrtausenden. Die »Alten Inder« gaben den Kräften, die wir bis heute nicht begreifen können, Namen: die Namen von Göttinnen und Göttern! Die Himmlischen erschaffen, erhalten, zerstören und rufen eine neue Schöpfung ins Leben.

Kali, die Göttin, verkörpert Zeit und Natur. Kali hat die Funktionen Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung... Ist das nicht das Prinzip, für das unsere hochmoderne Wissenschaft nur keinen Namen gefunden hat... das Prinzip vom Entstehen, Werden und Vergehen? Kali verkörpert den unendlichen Prozess der Entstehung, des Seins, der Zerstörung... und neuerlichen Entstehens. In der Unendlichkeit der Zeit werden und vergehen Galaxien ... In der Unendlichkeit der Zeit wirken die Kräfte der Natur.

Eine schwarze Madonna
Foto: Heidi Stahl
Seltsam: In der christlichen Kunst taucht auch immer wieder eine schwarze »Heilige« auf. Sie wird von evangelischen wie christlichen Christen eher diskret behandelt ... die »schwarze Madonna«. Ich bin davon überzeugt, dass die »schwarze Madonna« nichts anderes ist als eine Göttin aus heidnischen Zeiten in christlichem Gewand! Welcher Gläubige, der im Lugenser Wald (Bad Birnbach) zur »Schwarzen Madonna« betet, denkt dabei wohl an die schwarze Göttin Kali aus Indien?


Viele, vielleicht die meisten, indischen Tempel aus uralten Zeiten sind längst verschwunden. Sie wurden im Verlauf der Jahrhunderte abgetragen. Aus ihren Steinen wurden neue sakrale Bauwerke geschaffen. So gut wie unbekannt ist die wahrscheinlich älteste Tempelkultur Indiens ... unter den heiligen Städten, in der sprichwörtlichen Unterwelt! Für mich gibt es keinen Zweifel, dass unter der alten Stadt Mahabalipuram ein verzweigtes Netz von unterirdischen Tunneln darauf wartet, wissenschaftlich entdeckt zu werden. Vor Ort erhielt ich immer wieder Hinweise auf diese für Fremde verbotene Welt. Selbst Einheimische, so heißt es, wagen sich nicht in die unerforschte Welt. Vom Varagha-Tempel aus soll man in die Unterwelt hinab steigen und in breiten Tunneln bis nach Kanchipuram gelangen können – unterirdisch! Zwischen beiden Städten liegen fast 70 Kilometer!

»Wenn es noch irgendwo die ältesten Tempel der Göttin gibt, dann sind es unterirdische Höhlentempel, in Mahabalipuram und in Kanchipuram, zum Beispiel!«, diese Information wurde mir bei intensiven Gesprächen mit Ortskundigen immer wieder gegeben, vor Ort in Mahabalipuram und Kanchipuram. »Warum darf man die unterirdischen Gänge und Tempel nicht besuchen?«, wollte ich immer wieder wissen. Teils erntete ich hilfloses Achselzucken als Antwort, teils wurden »Sicherheitsprobleme« als Begründung genannt. Und von »Entweihung heiligster Orte« war die Rede ... »Begnügen Sie sich doch mit den überirdischen Tempeln!«, riet mir ein Reiseleiter.

Ein Tempelturm ragt in den Himmel ...
Foto: W-J.Langbein
Meiner Information nach sind es die ältesten Shiva-Tempel, die Verbindung zu den unterirdischen Tempeln haben, zu den Tempeln von Shivas Frau, zur Muttergöttin, zur Urgöttin.

Thomas Ritter, Weltreisender und Autor, bestätigt die Existenz der unterirdischen Anlagen. Ritter schreibt (1): »Mahabalipuram birgt auch unterirdische Geheimnisse, die bislang kaum bekannt sind. Im Süden des Ortes errichteten die Engländer um 1910 den modernen Leuchtturm, der bis heute seinen Dienst versieht. Unterhalb dieses Leuchtturms auf der Landseite des Felsplateaus wurde in ferner Vergangenheit ein Höhlentempel aus dem harten Gneisgestein herausgearbeitet. Dieser Varagha-Mandapam wird noch heute von einer Brahmanen-Familie betreut und ist eigentlich nur für Hindus zugänglich ... Nicht nur die ausgezeichnet erhaltenen Skulpturen und Reliefs machen den Mandaparam so interessant, sondern sein Eingang zu dem geheimen Labyrinth von Tunneln und unterirdischen Straßen, das von hier bis in die alte und heilige Hauptstadt Kanchipuram führt.«

Leider ist es mir nicht gelungen, in diese Unterwelt zu steigen. Von »amtlich versiegelten Eingängen« bekam ich zu hören, von »eingestürzten Tunneln«, von »religiösen Wächtern« wurde mir erzählt, die nur strenggläubige Hindu einlassen. Ganz aufgegeben habe ich aber das Projekt »Indiens Unterwelt« noch nicht ... Werde ich je in einen der Eingänge zur Welt unter den prachtvollen Tempeln gelangen? Wo könnte ich um eine entsprechende Erlaubnis ansuchen? Seit bekannt ist, dass Indiens Tempelkeller Milliardenwerte an Gold und sonstigen Schätzen zu bieten haben könnten ... wird die »Unterwelt« strikter denn je bewacht!
Vor rund fünf Jahrtausenden blühte im fruchtbaren Indusgebiet eine uralte Kultur, deren Wurzeln sich in der mystisch anmutenden Frühzeit verlieren. Wir wissen wenig Genaues über die Religion dieser städtischen Kultur. Bei archäologischen Ausgrabungen wurden Amulette und Phallus-Symbole entdeckt. Vermutlich herrschte damals das Matriarchat, das Mutterrecht.

Was mag unter diesem Tempel
zu entdecken sein?
Foto: W-J.Langbein
Vor rund dreieinhalb Jahrtausenden drang ein fremdes Volk aus dem Nordwesten ein. Die Invasoren nannten sich selbst »Ayra«, »die Edlen«. Jahrtausende später eigneten sich die Ideologen des III. Reiches diesen Namen, verdeutscht zu »Arier«, an. Mit den Invasoren kamen neue Gottheiten. Zwei religiöse Welten prallten aufeinander: die der Göttinnen der Urbevölkerung (Harappaner) des Indusgebiets und die männlichen Gottheiten der Eroberer (Ayra). Eigentlich sind es immer die militärischen Sieger, die die Geschichte schreiben ... und die bestimmen, woran „man“ im Volke zu glauben hat. So schien es auch in Indien zu geschehen. Die Ayra kämpften sich unaufhaltsam in Richtung Osten vor. Sie verwüsteten die Ur-Kultur auf ihrem Vormarsch. Sie versuchten anfangs wohl auch, den Besiegten ihren Glauben aufzunötigen. Doch je weiter sie in fremdes Terrain vorstießen, je länger sie gegen die Nachfahren der heimischen uralten Kultur kämpften, desto weniger konnten sie selbst sich der alten Religion der Einheimischen entziehen.

Gibt es bis heute geheim gehaltene Relikte des Matriarchats in der Unterwelt ... unter den prächtigen Tempeln Indiens?

Fußnote:
1 Ritter, Thomas: »Unterirdische Geheimnisse in Südindien – Spuren aus dem Untergrund«, veröffentlicht in Knörr, Alexander und Roth, Roland: »Terra Divina«, Groß Gerau, Oktober 2012, S. 15-25

Literaturempfehlung:

Walter-Jörg Langbein: »Die Geheimnisse der sieben Weltreligionen«, Köln 2007

Der Spuk von Gangaikondacholapuram,
Teil 199 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                                                                                              
erscheint am 10.11.2013

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